Die Fäden des Schicksals
Abigail? Er sieht doch gut aus.«
Sie spitzte missbilligend die Lippen und trennte weiter. »Nein, ich habe nachgemessen, und die eine Seite ist drei Millimeter zu schmal. Die Spitze hier sieht anders aus als die übrigen.«
Ich richtete mich ein wenig auf, lehnte mich gegen den Stapel Kissen, den ich mir ins Kreuz gestopft hatte, und warf einen Blick auf den halb aufgetrennten Quiltblock. Ich konnte beim besten Willen keinen Fehler entdecken.
»Wie oft haben Sie diesen Block schon aufgetrennt und neu zusammengenäht?«
»Das ist jetzt das vierte Mal«, sagte sie und kniff, ohne aufzublicken, die Lippen noch fester zusammen.
»Dann ist es ja kein Wunder, dass Ihre Nähte nicht mehr halten. Sehen Sie mal, wie ausgefranst die Ränder schon sind. Einmal kann man ruhig auftrennen, wenn es sein muss, aber wenn Sie es öfter tun, wird der Stoff so gedehnt, dass er am Ende völlig verzogen ist. Das macht die Sache nur noch schlimmer.«
Abigail seufzte. »Dann werde ich den Block wohl ganz neu nähen müssen.« Mit angewiderter Miene warf sie den Stoff beiseite. »Sie haben doch gesagt, Quilten wäre entspannend.«
»Das ist es auch«, entgegnete ich und fügte im Stillen hinzu: Zumindest, wenn man nicht ganz so pingelig ist.
»Zeigen Sie mal her.« Ich griff nach dem ausrangierten Block und schaute ihn mir genau an.
»Aber das ist doch prima, Abigail. Sie müssen schon ganz nahe herangehen, um den Unterschied zwischen den beiden Seiten zu erkennen. Nähen Sie die Naht einfach wieder zu und fangen Sie mit dem nächsten Block an.«
Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, ich mache ihn noch mal. Er soll perfekt sein.«
»Was meinen Sie damit – perfekt? Soll jeder Block genau wie der andere sein? Oder soll es aussehen wie mit der Maschine genäht? In diesem Fall hätten Sie nicht verstanden, worum es beim Quilten, insbesondere beim Handquilten, geht. Der Quilt darf nicht schlampig oder nachlässig genäht werden, doch er soll Ihre Persönlichkeit ausdrücken und echt sein. Man muss sehen können, dass ihn ein lebendiger Mensch mit seinen eigenen Händen geschaffen hat. Was hätte es sonst für einen Sinn? Dann könnten Sie auch in einen Laden gehen und ihr einen fertigen kaufen, Herrgott noch mal!« Ich war ganz schön in Fahrt. Ich konnte mich immer wieder darüber ereifern, dass die Leute sich etwas so Schönes und Kreatives, etwas zutiefst Menschliches wie das Quilten aussuchten und dann dieselbe unechte Perfektion anstrebten, wie man sie heutzutage überall findet.
»Evelyn …«
»Nein, lassen Sie mich ausreden«, erwiderte ich gereizt. »Wussten Sie, dass bei einigen der berühmtesten, unbezahlbaren Quilts, die heute im Museum hängen, die Nähte schief sind und die Stoffe nicht zusammenpassen? Und doch sind sie schön! Nicht weil sie perfekt ausgeführt wären, sondern weil …«
Abigail erhob sich aus ihrem Ohrensessel und ging in die Küche. »Evelyn, das Telefon klingelt.« Sie nahm ab und lauschte kurz, dann sagte sie: »Ja, sie ist hier. Einen Augenblick bitte.«
»Dr. Finney«, flüsterte sie unhörbar. Sie reichte mir den Hörer und ging, ohne dass ich sie darum hätte bitten müssen, die Treppe hinunter in den Laden.
»Hallo, Evelyn am Apparat.«
»Hallo, Evelyn. Hier ist Dr. Finney. Ich habe jetzt Ihren Bericht. Möchten Sie vorbeikommen, damit wir darüber reden können?«
Mir krampfte sich der Magen zusammen, und mein Herz schlug schneller. Wenn es gute Nachrichten sind, bitten sie einen nie, in die Praxis zu kommen. So viel wusste ich bereits. »Nein. Es ist etwas Schlimmes, nicht wahr? Ich möchte es jetzt gleich wissen. Ich will nicht länger warten.«
»Gut, Evelyn, ich verstehe. Wir konnten nicht alles herausschneiden. Es ist noch immer Krebs in der Brust«, sagte sie in sachlichem Ton.
»Oh Gott«, flüsterte ich und schloss die Augen. »Mein Gott.«
»Ich weiß, Evelyn. Es tut mir so leid.« Sie holte tief Luft, bevor sie fortfuhr: »Ich fürchte, da ist noch etwas. Die Kernspintomografie, die wir vor der Operation durchgeführt haben, zeigte auch einige verdächtig aussehende Bereiche in der anderen Brust. Wir müssen eine Gewebeprobe entnehmen. Vielleicht ist es ja gar nichts, aber das wissen wir erst, wenn wir es untersucht haben.«
»Das verstehe ich nicht. Warum hat man das nicht früher entdeckt?«
»Im Krankenhaus verfügen wir über modernere Geräte. Darum habe ich auch die Untersuchung angeordnet. Ich weiß, das ist ein Schock für Sie, aber gut, dass wir es
Weitere Kostenlose Bücher