Die Fäden des Schicksals
wenigstens jetzt entdeckt haben.«
»Ja, ich verstehe.« Ich wollte weinen, konnte aber nicht. Fassungslosigkeit, Enttäuschung und Angst bauten einen eigenartigen Druck in meinem Kopf und hinter den Augen auf. Das Sprechen und Denken tat mir weh, doch es musste sein. »Und was nun?«
»Ich möchte Sie so bald wie möglich sehen, damit wir die Biopsie vornehmen und alles besprechen können. Von mir aus ginge es morgen früh, wenn es Ihnen recht ist.«
»Morgen? Aber morgen ist Thanksgiving. Ist es denn so schlimm? Warum sagen Sie es mir dann nicht?«
»Oh nein, das ist nicht der Grund«, versicherte sie mir. »Wie ich bereits sagte, handelt es sich um einen ziemlich langsam wachsenden Tumor. Wir brauchen nichts zu überstürzen. Ich wollte Sie nur nicht länger warten lassen, weil ich weiß, wie belastend das sein kann. Vielleicht können Sie den Feiertag ja besser genießen, nachdem Sie mit mir gesprochen und die Biopsie hinter sich haben. Wenn es Ihnen hilft, können Sie gern morgen kommen.«
Ich wusste, dass sie es ernst meinte. Sie war so nett. »Aber morgen hat doch kein Labor geöffnet, nicht? Ich glaube, es bringt nicht viel, es sei denn, Sie machen die Biopsie, werten sie selbst aus und schreiben den Bericht, bevor der Truthahn im Ofen fertig ist. Ich glaube, das hat nicht viel Sinn. Ist schon gut, Deanna, wirklich. Essen Sie mit Ihrer Familie, und ich komme dann am Freitag zu Ihnen.«
»Gut, Evelyn, wie Sie meinen. Aber falls Sie es sich anders überlegen oder noch Fragen haben, rufen Sie mich einfach an. Ich habe Ihnen ja schon meine private Nummer und meine Handynummer gegeben, oder?«
»Ja, ich habe sie in meinem Adressbuch notiert.«
»Gut, scheuen Sie sich nicht, mich anzurufen. Wir sehen uns dann am Freitag um neun. Passt Ihnen das?«
»Ja, gut, Freitag um neun also.« Normalerweise schreibe ich mir alle Verabredungen auf, doch ich hatte gerade keinen Stift zur Hand, und außerdem würde ich diesen Termin ohnehin nicht vergessen und die Stunden bis Freitagmorgen zählen.
»Dann bis Freitag, Evelyn. Und ein frohes Thanksgiving.«
Ich legte auf.
»Frohes Thanksgiving«, sagte ich ins Leere, während ich, das Telefon an die Brust gedrückt, aus dem Fenster starrte.
Einige Minuten später hörte ich hinter mir ein Geräusch. Die Tür öffnete sich knarrend.
»Darf ich reinkommen?«, fragte Abigail. Als ich nicht antwortete, trat sie ins Zimmer uns stellte sich neben meinen Sessel.
»Was hat sie gesagt?« Vor lauter Besorgnis hatte sich zwischen ihren Brauen eine steile Falte gebildet. Normalerweise wirkte Abigail immer so patent, doch davon war jetzt nichts zu spüren. Sie schien ebenso ratlos zu sein wie ich. »Ist etwas nicht in Ordnung? Soll ich Margot anrufen?«
»Nein, alles in Ordnung.« Beim Aufstehen schmerzte die Operationswunde an meiner Brust ein wenig.
»Wo wollen Sie denn hin?«, fragte sie nervös. »Brauchen Sie etwas? Sagen Sie es mir, dann hole ich es Ihnen.«
Langsam ging ich zur Küche. »Mir geht es gut. Mir ist gerade eingefallen, dass morgen Thanksgiving ist. Ich will einen Truthahn braten.«
»Was wollen Sie?«, stieß sie hervor und folgte mir dicht auf den Fersen, als ich zum Kühlschrank schlurfte.
»Ich will einen Truthahn machen«, wiederholte ich. »Und einen Kürbiskuchen. Was kochen Sie denn zu Thanksgiving, Abigail?«
18
Abigail Burgess Wynne
D u hast an Thanksgiving im Frauenhaus gegessen?« Franklins ungläubigen Blick fand ich reichlich beleidigend.
»Ja«, fauchte ich. »Ist das so erstaunlich?«
»Ja, das ist es in der Tat«, erwiderte er mit breitem Grinsen.
»Ach, hör auf, Franklin! Ich weiß gar nicht, warum ich dir überhaupt noch etwas erzähle. Egal, was ich tue, immer machst du dich über mich lustig.«
Mit Mühe setzte Franklin eine ernste Miene auf. »Entschuldige, Abigail. Ich wollte dich nicht aufziehen. Ganz im Gegenteil. Man kann sich allerdings nur schwer vorstellen, wie du hinter einem Warmhaltetisch stehst und Teller mit Kartoffelbrei und Sauce austeilst.«
»Sag mal …« Er beugte sich über seinen Schreibtisch, wobei die rostigen Sprungfedern seines ledernen Kanzleistuhls quietschten. »… musstest du dabei auch so ein Haarnetz tragen?«
»Halt den Mund, Franklin!«, erwiderte ich ungehalten. »Und lass deinen Stuhl mal ölen. Das hört sich ja an, als würde jemand mit den Fingernägeln über eine Schiefertafel kratzen. Oder noch besser, kauf dir einen neuen. Ich bezahle dir doch genug, dass du nicht diesen ramponierten
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