Die Fährte
Beinahe.
»Wachtmeister?«, sagte sie mit aufrichtiger Überraschung. »Das ist aber eine angenehme Überraschung.«
Der Mann auf der Treppe war durchnässt, Wassertropfen hingen an seinen Augenbrauen. Er lehnte sich mit einem Arm an den Türpfosten und sah sie an, ohne zu antworten. Vigdis Albu öffnete die Tür ganz und senkte die Lider ein wenig: »Wollen Sie nicht hereinkommen?«
Sie ging vor, während sie seine Schuhe hinter sich schmatzen hörte. Sie wusste, dass ihm gefiel, was er sah. Er setzte sich in den Lehnsessel, ohne seinen Mantel auszuziehen, und sie sah, wie der Bezug die Nässe aufsog und dunkler wurde.
»Gin, Herr Wachtmeister?«
»Haben Sie Jim Beam?«
»Nein.«
»Gin ist O.K.«
Sie holte die Kristallgläser – ein Hochzeitsgeschenk der Schwiegereltern – und goss für beide ein. »Mein Beileid«, sagte der Polizist und sah sie mit roten, glasigen Augen an, die ihr verrieten, dass das nicht sein erster Drink an diesem Tag war.
»Danke«, sagte sie. »Prost.«
Als sie das Glas wieder abstellte, bemerkte sie, dass der Mann sein Glas bereits halb geleert hatte. Er saß da und fingerte am Glas herum, als er plötzlich sagte: »Ich war es, der ihm das Leben genommen hat.«
Vigdis griff automatisch an die Perlenkette, die sie um den Hals trug. Sein Hochzeitsgeschenk.
»Ich wollte nicht, dass das so endet«, sagte er. »Aber ich war dumm und unvorsichtig. Ich habe seinen Mörder direkt zu ihm geführt.«
Vigdis beeilte sich, das Glas an die Lippen zu führen, damit er nicht sah, dass sie beinahe vor Lachen platzte.
»So, jetzt wissen Sie es«, sagte er.
»Ja, jetzt weiß ich es, Harry«, flüsterte sie. Sie glaubte, eine Spur von Verwunderung in seinem Blick zu erkennen.
»Sie haben mit Tom Waaler gesprochen.« Harrys Frage hörte sich eher wie eine Feststellung an.
»Sie meinen diesen Beamten, der sich wie Gottes Geschenk für die … ach, lassen wir das. Ich habe mit ihm gesprochen, ja. Und ich habe ihm natürlich erzählt, was ich wusste. Hätte ich das nicht tun sollen, Harry?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Habe ich Sie in eine Zwickmühle gebracht, Harry?« Sie hatte die Beine unter sich aufs Sofa gezogen und sah ihn durch das Glas mit besorgter Miene an.
Er antwortete nicht.
»Noch einen Drink?«
Er nickte. »Eine gute Neuigkeit habe ich aber für Sie.« Er sah genau zu, wie sie das Glas füllte. »Heute Abend habe ich eine Mail von einer Person bekommen, die darin den Mord an Anna Bethsen gesteht. Der Betreffende hat mich die ganze Zeit über glauben lassen, es sei Arne gewesen.«
»Wie schön«, sagte sie. »Oh, der ist wohl etwas trocken geworden.« Sie vergoss Gin auf die Tischplatte.
»Sie hören sich nicht gerade überrascht an.«
»Mich überrascht nichts mehr. Ehrlich gesagt habe ich nicht geglaubt, dass Arne die Nerven gehabt hätte, einen Menschen zu ermorden.«
Harry rieb sich den Nacken. »Wie auch immer. Jetzt habe ich den Beweis, dass Anna Bethsen getötet wurde. Ich habe dieses Geständnis an einen Kollegen von mir weitergeleitet, ehe ich das Haus verlassen habe. Zusammen mit all den anderen Mails, die ich bekommen habe. Das heißt, dass ich alle Karten auf den Tisch lege, was meine eigene Rolle in diesem Spiel angeht. Anna war eine frühere Freundin von mir. Mein Problem ist, dass ich an dem Abend, an dem sie getötet wurde, in ihrer Wohnung war. Ich hätte das sofort sagen müssen, aber ich war dumm und unvorsichtig und glaubte, die Sache selbst aufklären zu können und gleichzeitig dafür zu sorgen, nicht selbst in die Sache hineingezogen zu werden. Ich war …«
»Dumm und unvorsichtig. Das sagten Sie bereits.« Sie sah ihn gedankenverloren an, während sie mit der Hand über ein Sofakissen strich. »Das erklärt natürlich eine ganze Menge. Aber ich kann trotzdem nicht verstehen, warum es ein Verbrechen sein soll, Zeit mit einer Frau zu verbringen, mit der man … seine Zeit verbringen will. Das hätten Sie doch erklären können, Harry.«
»Tja«, er kippte den puren Gin hinunter. »Ich bin am nächsten Tag aufgewacht, ohne mich an irgendetwas zu erinnern.«
»Verstehe«, sie stand vom Sofa auf und trat zu ihm. »Wissen Sie, wer der Täter ist?«
Er legte den Kopf nach hinten an die Lehne und sah zu ihr auf. »Wer sagt, dass es ein Mann ist?« Seine Worte kamen ein wenig genuschelt.
Sie streckte eine schlanke Hand aus. Er sah sie fragend an.
»Der Mantel«, sagte sie. »Und dann gehen Sie direkt ins Badezimmer und nehmen ein heißes Bad. Ich
Weitere Kostenlose Bücher