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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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drückte auf den Knopf. »Ein Wärter kommt gleich«, erklang es nasal.
    Der Wärter war ein kleinwüchsiger Mann mit runden Muskeln und dem schaukelnden Gang eines Zwerges. Er führte sie in den Zellentrakt. Über drei Etagen erstreckte sich eine Galerie mit Reihen von hellblauen Zellentüren, die eine große, längliche Halle umrahmten. Ein Stahlnetz war zwischen jeder Etage aufgespannt. Es war niemand zu sehen, und die Stille wurde einzig durch das Echo einer Tür unterbrochen, die irgendwo in der Halle zugeschlagen worden war.
    Harry war hier schon oft gewesen, doch es kam ihm jedes Mal gleich absurd vor, dass sich hinter diesen Türen Menschen befanden, die nach Meinung der Gesellschaft gegen ihren Willen eingesperrt werden mussten. Harry wusste nicht genau, warum er diesen Gedanken so ungeheuerlich fand. Es hatte aber sicher mit der physischen Manifestation der öffentlichen, institutionalisierten Sühne eines Verbrechens zu tun. Schwert und Waage.
    Der Schlüsselbund des Wärters klirrte, als er die Tür mit der schwarzen Aufschrift BESUCHSZIMMER aufsperrte. »Bitte sehr, klopfen Sie einfach, wenn Sie wieder gehen wollen.«
    Sie traten ein und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. In der Stille, die folgte, bemerkte Harry das schwache Surren einer Leuchtstoffröhre, das mal lauter, mal leiser wurde, und die Plastikblumen an den Wänden, die fahle Schatten auf die blassen Aquarelle warfen. Ein Mann saß aufrecht auf einem Stuhl an einem Tisch, der exakt in der Mitte der kürzeren, gelben Wand des Raumes stand. Seine Unterarme ruhten rechts und links von einem Schachbrett auf der Tischplatte. Die Haare waren glatt nach hinten über die eng anliegenden Ohren gekämmt. Er trug glatte, graue overallartige Kleidung. Die markanten Augenbrauen und der Schatten, der auf die Seite seiner geraden Nase fiel, zeichneten jedes Mal, wenn die Leuchtstoffröhre ausging, ein deutliches »T«. Doch das Bemerkenswerteste war der Blick, der Harry bereits bei der Beerdigung aufgefallen war, diese sich selbst widersprechende Mischung aus Leiden und Ausdruckslosigkeit, der ihn an jemand anderes denken ließ.
    Harry gab Beate ein Zeichen, sich an der Tür hinzusetzen. Er selbst zog sich einen Stuhl an den Tisch und setzte sich gegenüber von Raskol hin. »Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben, uns zu treffen.«
    »Zeit«, antwortete Raskol mit einer überraschend hellen und weichen Stimme. »Zeit ist hier billig.« Er sprach mit dem typischen Akzent eines Osteuropäers, mit hartem »r« und deutlicher Betonung.
    »Verstehe. Mein Name ist Harry Hole und meine Kollegin heißt …«
    »Beate Lønn. Sie ähneln Ihrem Vater, Beate.«
    Harry hörte Beate nach Luft schnappen und drehte sich etwas um. Ihr Gesicht war nicht rot geworden, sondern ganz im Gegenteil schien ihre blasse Haut noch weißer geworden zu sein, während ihr Mund in einer Grimasse erstarrt war, als hätte ihr jemand ins Gesicht geschlagen.
    Harry räusperte sich, starrte auf die Tischplatte und erkannte erst jetzt, dass die beinahe schon unangenehme Symmetrie rechts und links der Achse, die den Raum und Raskol teilte, durch ein winziges Detail gebrochen war: König und Dame auf dem Schachbrett.
    »Und wo habe ich Sie schon gesehen, Hole?«
    »Ich halte mich in der Regel in der Nähe von Toten auf«, sagte Harry.
    »Ah ja, die Beerdigung. Sie waren einer der Wachhunde des Dezernatsleiters, nicht wahr?«
    »Nein.«
    »Das hat Ihnen also nicht gefallen, Wachhund genannt zu werden. Seid ihr nicht so gut aufeinander zu sprechen?«
    »Nein.« Harry dachte nach. »Wir mögen uns ganz einfach nicht. Soweit ich weiß, Sie sich auch nicht.«
    Raskol lächelte mild, während die Neonröhre erneut aufflackerte. »Ich hoffe, er hat das nicht persönlich genommen. Es sah aber nach einem sehr billigen Anzug aus.«
    »Ich glaube nicht, dass es der Anzug war, der den größten Schaden hatte.«
    »Er wollte, dass ich ihm etwas erzähle. Und dann hab ich ihm etwas erzählt.«
    »Dass Spitzel für immer gebrandmarkt sind?«
    »Nicht schlecht, Herr Hauptkommissar. Aber die Tinte verschwindet ja mit der Zeit. Spielen Sie Schach?«
    Harry versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass Raskol seinen Dienstgrad genannt hatte. Vielleicht hatte er bloß geraten.
    »Ich habe mich gefragt, wie es Ihnen gelungen ist, den Sender zu verstecken«, sagte Harry. »Ich habe gehört, die haben die ganze Abteilung auf den Kopf gestellt.«
    »Wer hat gesagt, dass ich etwas versteckt habe? Weiß oder

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