Die Fahrt des Leviathan
einschlagen wollt, dann müsst ihr erst einmal mich aus dem Weg räumen.«
Er drückte dem Schwarzen das Gewehr in die Hand, zog dann seinen Degen und gab ihn dem verdutzten Weißen. »Jetzt dürft ihr mir zeigen, wie kaltblütig ihr seid. Na los! Wenn ich erst tot bin, könnt ihr und eure ganze Bagage euch an die Gurgel gehen!«
Totenstille hatte sich über die Menschenansammlung gelegt. Kein Laut war zu vernehmen, alle sahen angespannt auf die drei Männer auf dem Fuhrwerk.
Sich ewig dehnende Sekunden verstrichen. Nichts geschah. Die zwei Arbeiter starrten überfordert auf den Major, der keinerlei Regung zeigte. Der Schwarze machte unentschlossene Anstalten, das Gewehr zu heben und vielleicht die Spitze des Bajonetts drohend auf Pfeyfer zu richten. Doch ihn verließ sogleich die Kraft. Er ließ die Waffe sinken.
Auch der Weiße brachte es nicht über sich, Pfeyfer zu attackieren. Er starrte hilflos auf den Degen in seiner Hand, und nahezu im gleichen Moment, in dem sein schwarzer Kontrahent das Gewehr senkte, schluckte er einen imaginären Kloß im Hals hinunter und schüttelte verstört den Kopf. Bleich gab er dem Offizier wortlos den Degen zurück.
Pfeyfer ließ die Klinge zurück in die Scheide gleiten und kümmerte sich nicht weiter um die zwei Männer, die gesenkten Hauptes vom Fuhrwerk stiegen wie geprügelte Hunde. Er wandte sich an die betreten schweigende Menge, um in kräftigem, beherrschtem Tonfall zu verkünden: »Und ihr geht jetzt nach Hause!«
Erleichtert verfolgte er, wie sich die beiden Aufmärsche tatsächlich aufzulösen begannen und die Leute anstandslos von dannen zogen, nur leise miteinander sprechend und noch immer unter der Wirkung der Ereignisse. Pfeyfer war klar, dass er mit hohem Einsatz und enormem Risiko gespielt hatte. Hätte ihn seine Menschenkenntnis im Stich gelassen, dann wäre er von einer Stahlklinge durchbohrt worden. Aber sein Bluff war gelungen, er hatte dem Volkszorn die Spitze abbrechen können, indem er zwei Stellvertretern der Menge den Schneid abkaufte. Es war überstanden.
Natürlich wusste er genau, wem er derartige Kalamitäten zu verdanken hatte. Nämlich Leuten wie dieser unausstehlichen Rebekka Heinrich, die mit ihrem fahrlässigen Gerede den Menschen erst Flausen in die Köpfe setzten. Aber er wollte sich nicht darüber ärgern. Nicht jetzt.
Pfeyfer kletterte von der Ladefläche hinab und stellte sich vor seine Soldaten, aus deren Mienen angesichts der sich zerstreuenden Menschenansammlung nun langsam die Anspannung wich.
»Ihr habt euch mustergültig gehalten«, lobte er; ein wenig Erschöpfung mischte sich in den Klang seiner Stimme. »Fertigmachen zum Rückmarsch. Korporal, übernehmen Sie.«
Pfeyfer wollte sich einfach nur auf seinen Stuhl sacken lassen und sich von der letzten halben Stunde, welche die längste seines bisherigen Lebens gewesen war, erholen. Doch als er in sein Dienstzimmer trat, sprang sofort Hauptmann FliegenderSchwarzer-Adler hinter dem Schreibtisch auf und meldete, dass während seiner Abwesenheit ein Dienstmann einen ausdrücklich als dringend und vertraulich gekennzeichneten Brief gebracht habe.
Dabei deutete er auf ein versiegeltes Kuvert, das an Pfeyfers Platz lag.
Wenig erbaut darüber, ausgerechnet jetzt, da er nichts als ein wenig Ruhe wollte, mit einem wichtigen Schreiben konfrontiert zu werden, nahm der Major den Umschlag an sich, erbrach das Siegel und las die in wenigen Zeilen spitzer Schreibschrift enthaltene Nachricht.
Augenblicklich verfinsterte sich seine Stimmung noch weiter. Der Brief stammte von Krüger. Der Polizeidirektor unterstand sich doch tatsächlich, ihn herbeizuzitieren wie einen subalternen Beamten.
Pfeyfer zerknüllte das Blatt in der Faust und musste sich sehr beherrschen, um es nicht einfach zu Boden zu werfen. Allein das Bewusstsein, dass Wutausbrüche in Gegenwart von Untergebenen dem Gefüge von Autorität und Disziplin abträglich waren, hielt ihn davon ab.
Aber gegenüber dem Zivilisten Krüger würde er solche Zurückhaltung nicht kennen. Nicht, wenn der Geheimpolizist es wagte, ihn durch neue Unverschämtheiten zu provozieren.
* * *
»Nehmen Sie doch Platz, Herr Major!« Einladend deutete Kolowrath auf die Sessel beim Kamin.
»Ich ziehe es vor zu stehen«, lehnte Pfeyfer kühl ab. Er wollte von diesem unangenehmen Polizisten nichts annehmen, nicht einmal einen Sitzplatz.
Jetzt da er sah, wie Krüger wohnte, wuchs seine Abneigung gegen den anmaßenden Polizeidirektor noch
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