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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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über Vorkommnisse in anderen Teilen der Provinz, in welchen Ausbrüchen von Brutalität sich Zorn entladen konnte.
    Gerade noch zur rechten Zeit erreichte die kleine Truppe die Kreuzung der zwei breiten Geschäftsstraßen. Die verschreckten Passanten hatten sich längst in Sicherheit gebracht. Keine hundertsiebzig Fuß waren die Spitzen der beiden Züge, die sich auf der Mohrenallee einander näherten, mehr voneinander entfernt. Und die Soldaten standen in der Mitte zwischen ihnen.
    Wie eine Mücke zwischen Daumen und Zeigefinger,
dachte Pfeyfer. Kalt rann es ihm den Rücken hinab, als er sich seine Lage vergegenwärtigte. Doch er ließ nichts von seiner Furcht durchscheinen. In dieser bedrohlichen Situation durfte er sich keine Blöße geben. War es nicht so, dass Raubtiere instinktiv zuschlugen, wenn sie bei ihrem Opfer eine Schwäche witterten? Und es gab kein gefährlicheres Raubtier als den Menschen, der in einem entfesselten Pöbelhaufen aufgegangen war.
    Pfeyfer ließ die Soldaten in zwei Reihen Rücken an Rücken Aufstellung nehmen, so dass jeweils sechs Mann mit geladenen Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten den Aufmärschen entgegensahen, die sich auf sie zubewegten. Dann kamen beide Züge schleppend zum Stillstand, so nah beieinander, dass sich die Marschierenden der vordersten Reihen gegenseitig in die Augen starren konnten. Auf der einen Seite standen Weiße, viele von ihnen armselig gekleidet und hohlwangig, die aufgebracht eine Anerkennung der Konföderierten Staaten oder gar die Umwandlung der Provinz Karolina in eine souveräne Republik forderten, damit endlich wieder die alle ernährende Baumwolle ins Land kam. Ihnen gegenüber befanden sich Schwarze und Mulatten, darunter nicht wenige ebenso elende Erscheinungen wie bei den Weißen auf der anderen Seite der trennenden Postenkette. Sie begegneten den Losungen ihrer Kontrahenten mit Wut, bekundeten ihre Treue zur Krone und schworen, selbst um den Preis ihres Lebens zu verhindern, dass Karolina zur Stärkung der Südstaaten beitrug. Wie auf Kommando rissen Dutzende von ihnen die Arme in die Höhe. An allen Handgelenken wölbten sich wulstige Narben, Spuren grober eiserner Fesseln.
    Fäuste wurden drohend geschwenkt, wüste Beleidigungen geschrien, Pfiffe gellten. Pfeyfer spürte, dass er schnellstens etwas tun musste. Jede Sekunde konnte der erste Pflasterstein fliegen, dann würden alle Dämme bersten. Und zum allerersten Mal überhaupt sorgte er sich um die Zuverlässigkeit seiner Soldaten. Die Korporalschaft, die als dünne blaue Linie jetzt noch durch ihre bloße Disziplin die Menschenmassen auf Abstand hielt, bestand fast zu gleichen Teilen aus Weißen und Schwarzen. Was, wenn sie zu lange den in Sprechchören vorgebrachten Parolen ausgesetzt waren und schwankend wurden? Es genügte, dass ein einziger den Gehorsam aufkündigte und aus dem Glied trat, um Partei zu ergreifen, schon würde der labile Respekt der Demonstranten vor der Ordnungsmacht zusammenbrechen. Mit jedem Augenblick, der verstrich, rückte das Unheil in der einen oder anderen Form näher. Es gab kein Warten und Hoffen.
    Ohne lange das Für und Wider seines Vorgehens abzuwägen, erklomm der Major die Ladefläche eines am Straßenrand abgestellten Fuhrwerks. Er versuchte sich Gehör zu verschaffen. Da es ihm nicht gelang, mit seiner Stimme die Rufe der Menge zu übertönen, ließ er sich kurzentschlossen vom nächststehenden Soldaten das Gewehr hinaufreichen und feuerte einen Schuss in die Luft ab. Der peitschende Knall erfüllte seinen Zweck. Der Lärm verstummte und alle Blicke richteten sich nun auf ihn.
    Jetzt kommt das eigentliche Wagnis,
sagte Pfeyfer sich nervös. Mit dem Blick des erfahrenen Offiziers machte er in den vordersten Reihen der beiden Aufmärsche auf der Stelle zwei Männer in geflickter Arbeitskleidung aus, einer weiß und der andere schwarz, die zweifellos Rädelsführer sein mussten, denn sie besaßen jene Art von Autorität, die aus dem Augenblick heraus geboren wird. Er deutete auf sie und wies sie mit fester Stimme an, zu ihm auf das Fuhrwerk zu steigen. Zu seiner Erleichterung kamen sie seiner Anweisung tatsächlich nach.
    Sie standen links und rechts von ihm, blickten sich feindselig an und warteten misstrauisch auf das, was der Major ihnen zu sagen hatte.
    »Ihr wollt euch gegenseitig ans Leder, richtig?«, fragte Pfeyfer laut. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach er sofort weiter: »Aber nicht, solange ich hier stehe. Wenn ihr euch die Schädel

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