Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
vor vier Uhr zum Hotel Belle-Alliance bringen!«

10. Dezember
    Der Kordon von Schutzmännern vor dem Tor des Lagerhauses hatte trotz der Morgenstunde eine erkleckliche Zahl Neugieriger angelockt, und es kamen immer weitere hinzu. Noch gab es für sie nicht viel zu sehen; aber sie harrten aus und spekulierten lebhaft über den Grund, weshalb die Polizei in solcher Stärke angerückt war. Einige glaubten zu wissen, dass die Richmond-Handelsgesellschaft Bankrott gemacht habe und die Obrigkeit nun zur Tilgung der Außenstände die vorhandenen Waren beschlagnahmen würde. Andere wiederum meinten gehört zu haben, im Lagerhaus hielte sich ein gesuchter und äußerst gefährlicher Krimineller versteckt, der nun dingfest gemacht werden solle. Vermutungen machten die Runde, wurden verworfen, erstanden wieder auf und pflanzten sich in der beständig anwachsenden Zuschaueransammlung fort.
    Major Pfeyfer war im Allgemeinen nicht angetan davon, wenn gaffendes Publikum zusammenströmte. Heute jedoch sah er das anders. Es sollten ruhig recht viele Menschen Zeuge werden, wenn seine Männer die Waffen ins Freie schafften. Die ungesetzlichen Machenschaften der Konföderation auf preußischem Boden vor zahlreichen Augen zu enthüllen, bereitete ihm insgeheim sogar schadenfrohe Genugtuung.
    Der verspätet eingetroffene Schlosser war noch dabei, die Schlupftür zu entriegeln. Ein wenig ungeduldig drängte Pfeyfer ihn, sich doch zu beeilen. Er wollte keine Verzögerungen dulden, die den Zuschauern vielleicht Anlass zu Spötteleien geboten hätten. Darauf legte er umso mehr Wert, als er immerhin ein reichliches halbes Dutzend der Zaungäste als Journalisten erkannte; sie mussten in aller Hast herbeigeeilt sein, als sie vom Aufmarsch der Schutzmänner im Alten Hafen hörten. Die meisten von ihnen erweckten mit verschlafen zerknautschten Gesichtern, ungekämmtem Haar und nachlässig gebundenen Krawatten den Anschein, als hätten sie noch zehn Minuten zuvor in ihren Betten gelegen und friedlich geträumt.
    Es fiel Pfeyfer nicht schwer, die Korrespondenten amerikanischer Blätter zu identifizieren. Im Unterschied zu ihren preußischen Kollegen ließen sie jede Disziplin vermissen, drängten sich ganz nach vorne und riefen, nachdem sie ihn als befehlshabenden Offizier erkannt hatten, auf der würdelosen Jagd nach Auskünften laut Fragen in seine Richtung. Mit keinem dieser vulgären Schreiberlinge gedachte Pfeyfer ein Wort zu wechseln.
    Da er aber sehr wohl ein Interesse daran hatte, seine Version der Dinge zu verbreiten, musterte er die mit Notizblöcken und Bleistiften Bewaffneten eingehend, bis er zwei ausgemacht hatte, die ihm ihrem Auftreten nach am ehesten geeignet schienen, in seinem Sinne zu berichten. Er winkte sie heran und gab den Beamten Befehl, die beiden Männer passieren zu lassen. Unter den neidvollen Blicken der anderen Journalisten passierten die Ausgewählten den Kordon und wurden von Pfeyfer begrüßt. Der eine, im dunklen Gehrock und mit Haaren, die ihrer Länge nach auch einem Künstler gut zu Gesicht gestanden hätten, stellte sich als Theodor Fontane von der Berliner
Kreuz-Zeitung
vor und war als Vertreter der konservativen königstreuen Presse dem Major augenblicklich sympathisch. Der andere war mit einem etwas unordentlich aussehenden weißen Anzug angetan und trug einen buschigen schwarzen Schnurrbart. Seine wachen Augen, denen nichts zu entgehen schien, lagen im Schatten permanent skeptisch zusammengezogener, struppiger Augenbrauen. Er reichte Pfeyfer eine nach amerikanischem Geschmack schwülstig verschnörkelte Visitenkarte, die ihn als Samuel L. Clemens auswies, Reporter des
Territorial Enterprise
in Virginia City, Nevada.
    »Nevada?«, wunderte sich Pfeyfer. »Was führt Sie von so weit her nach Karolina?«
    »Einige meiner Mitbürger legten mir eine längere Reise nahe«, entgegnete Clemens. »In einer Bergbaustadt kann es gewisses Unverständnis hervorrufen, wenn ein Zeitungsartikel mit dem Satz beginnt
Eine Mine ist ein Loch im Boden, das einem Lügner gehört.
Insbesondere dann, wenn der unmittelbar nachfolgende Satz zufälligerweise die Namen diverser Minenbesitzer enthält.«
    »Verstehe. Nun, meine Herren, Sie wünschen vermutlich zu erfahren, was sich hier zuträgt?«
    Beide bejahten wie erwartet, und Pfeyfer eröffnete ihnen, dass er aufgrund verlässlicher Hinweise eines anonymen Zuträgers eine Durchsuchung des Lagerhauses in die Wege geleitet habe.
    »Wir wissen mit Sicherheit, dass sich im Inneren

Weitere Kostenlose Bücher