Die Fahrt des Leviathan
Ansehens nicht gefährden.
»Nehmen wir daher einfach einmal an, die Südstaaten attackierten uns tatsächlich«, forderte er die Anwesenden auf, während er langsam um den Tisch schritt. »Was hätten wir ihnen dann entgegenzusetzen?«
»Drei Infanterieregimenter, ein Jägerbataillon, drei Kavallerieregimenter. Stamm und Reserve, jedoch natürlich keine Rekruten. Insgesamt 8755 Mann, zuzüglich sechs Batterien Feldartillerie mit insgesamt 48 Geschützen«, zählte der General auf, ohne auch nur eine Sekunde überlegen zu müssen.
Der Kronprinz blieb stehen. »Nicht mal zehntausend Mann. Und das gegen vielleicht fünfzigtausend, siebzigtausend«, resümierte er sorgenvoll.
Dr. Schöttler, dem als Präsidenten des Oberlandesgerichts das Justizwesen der Provinz unterstand, meldete sich zu Wort und erinnerte daran, dass neben den Linientruppen doch auch noch die Landwehrregimenter zur Verfügung standen. Mit dieser Bemerkung sorgte er für Naserümpfen und verkniffene Mienen bei den Offizieren, die allesamt keine hohe Meinung von der Landwehr hatten. Sie billigten der Miliz aus ehemaligen Reservisten nicht den geringsten militärischen Wert zu, und dass die Männer dort ihre Offiziere selbst wählten, war ihnen vollends suspekt.
FliegenderSchwarzer-Adler bestätigte dem Thronfolger mit unterdrücktem Widerwillen, dass die Landwehr des Militärbezirks Karolina die vorschriftsmäßige Stärke von sechs Regimentern Infanterie und ebenso vielen Kavallerieregimentern hatte. »Zusammen gut 20 400 Mann, Hoheit. Wobei die Frage ihrer Tauglichkeit und Kampfkraft allerdings offen bleibt«, setzte er mit abschätzigem Unterton hinzu.
Kronprinz Friedrich überhörte die Vorbehalte geflissentlich und zeigte sich erfreut: »Damit könnten wir im Ernstfalle fast dreißigtausend Mann aufbieten. Zieht man außerdem in Betracht, dass unsere Hinterladergewehre den Vorderladern unserer potentiellen Gegner weit überlegen sind und der Verteidiger stets im Vorteil ist, befinden wir uns eindeutig in der Lage, jeden Angriff zurückzuschlagen.«
»Sofern wir rechtzeitig die Mobilmachung verkünden, Hoheit«, merkte Carradine an.
»Das ist unser geringstes Problem, Oberst«, befand der Kronprinz. »Sollte die Nachricht vom Sieg des Südens eintreffen, machen wir unverzüglich mobil. Welche konföderierte Armee auch immer gegen uns ausgeschickt wird, sie muss den Weg zu Fuß und auf unzureichenden Eisenbahnen zurücklegen. Bis sie an unseren Grenzen eintrifft, sind wir bereit, sie zu empfangen. Wenn unsere Kriegsbereitschaft sie nicht zurückweichen lässt, dann die horrenden Verluste, die sie unweigerlich erleiden werden. Das machen Soldaten, die sich eigentlich schon sicher am heimatlichen Kamin wähnten, nicht lange mit.«
Der Thronfolger kehrte an seinen Platz zurück und setzte sich wieder. Er konnte den Männern am Tisch ansehen, dass keiner von ihnen einen solchen Verteidigungsplan für notwendig hielt. Aber es wurden auch keine Einwände erhoben, und das genügte ihm. Er ließ sich vom General zusichern, dass die nötigen Geheimorders ausgefertigt und allen Offizieren übermittelt würden.
Eigentlich hätte er zufrieden sein müssen. Er hatte einen gangbaren Weg gefunden, Karolina vor einer Invasion durch die Konföderierten zu schützen. Doch wenn er in die Gesichter der Offiziere und Verwaltungsbeamten blickte, sah er in ihren Augen nur Unverständnis. Sie begriffen einfach nicht.
Kronprinz Friedrich begann zu ahnen, mit welchen Schwierigkeiten Rebekka Heinrich zu kämpfen hatte.
* * *
Schrille Querflötentriller und tönende Trommelschläge leiteten bruchlos zum nächsten Marsch über. Die Kapelle des 1. Karolinischen InfanterieRegiments war angetreten, um mit klingendem Spiel die Soldaten zu verabschieden, die nach Korporalschaften geordnet an Bord des Hapag-Dampfers
Thuringia
gingen. Aus vollen Kehlen sangen die jungen Männer
Fridericus Rex, unser König und Herr
mit. In den vielen Stimmen, die mit dem stampfenden Takt der Musik verschmolzen, klangen Aufregung, Ungewissheit und abenteuerlustige Erwartung in sämtlichen Nuancen mit. Die meisten der Soldaten ließen zum allerersten Mal in ihrem gesamten Leben die von Kindheit an vertraute Umgebung von Dorf oder Heimatstadt hinter sich. Sie waren im Begriff, eine lange Reise anzutreten. Keiner sah dem Kommenden gleichgültig entgegen.
Ihre Angehörigen, in angemessener Distanz auf dem Quai versammelt, schwenkten Taschentücher und Hüte. Viele der Gesichter
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