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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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verrieten neben pflichtgemäßem Stolz auch Sorge um die Söhne, Enkel und Brüder, denn die Fahrt über den Atlantischen Ozean war im Winter nicht ungefährlich. Und wer konnte vorhersagen, wie es den unfreiwilligen Reisenden in der Fremde ergehen würde? Aber alle diese Befürchtungen blieben unausgesprochen. Nur wehmütige Abschiedsworte wurden gerufen, von denen keines bis zu den Ohren derer vordrang, an die sie gerichtet waren.
    Die meisten der zahlreichen Menschen, die an diesem Tag die Quais bevölkerten, waren allerdings aus ganz anderem Anlass gekommen. Sie wollten die
Great Eastern
sehen, auf die man vom Neuen Hafen aus einen besonders guten Blick hatte. Außerdem konnte man verfolgen, wie die nunmehr täglich in großer Menge per Eisenbahn eintreffenden Baumwollballen durch Heerscharen von Hafenarbeitern auf Dutzende Schleppkähne umgeladen wurden. Diese brachten in nicht abreißender Folge ihre Fracht hinüber zu dem Riesenschiff, um dann leer oder beladen mit herausgerissenen Möbeln, Wandpaneelen, Deckentäfelungen und allerlei sonstigen Rudimenten zurückzukehren.
    Auch Amalie von Rheine und Rebekka Heinrich hatten die minutiös choreographierte Beladung eingehend beobachtet. Jedoch hatte nicht Schaulust sie getrieben, sondern die Hoffnung, kleine Anhaltspunkte zu entdecken, die, in den rechten Zusammenhang gebracht, vielleicht verlässliche Rückschlüsse auf die wahre Bestimmung der
Great Eastern
erlaubten. Doch sie hatten auch mit größter Aufmerksamkeit nichts Erhellendes entdecken können. Unverrichteter Dinge traten sie daher wieder den Rückweg entlang der Quais an.
    Als sie die
Thuringia
erreichten, meinte Rebekka mit Blick auf die Abschiedszeremonie nachdenklich: »Meine Begeisterung für das Militär hielt sich bisher in Grenzen. Nun aber wünschte ich, diese Männer würden hierbleiben. Wer weiß, ob wir nicht bald schon jeden von ihnen benötigen?«
    »Wohin sollen diese Männer denn überhaupt gebracht werden?«, wollte Amalie wissen.
    »Es sind Wehrpflichtige«, erklärte die Direktorin. »Seit 1821 leisten die karolinischen Rekruten ihren zweijährigen Dienst in Berlin und Coblenz ab. Dadurch soll gesichert werden, dass die innere Verbundenheit mit dem fernen Kernland sich nicht lockert.«
    Amalie verstand das Kalkül, das diesem System zugrunde lag. Und jetzt begriff sie auch, woher die schwarzen Soldaten stammten, die ihr in Berlin mehrfach aufgefallen waren. Damals hatte sie noch angenommen, es handelte sich um Musiker der Garderegimenter. Genauer konnte sie über die neu gewonnene Erkenntnis aber nicht nachdenken, denn im selben Augenblick erblickte sie nicht weit entfernt ein bekanntes Gesicht.
    »Sehen Sie doch, dort!«, sagte sie und zeigte zum Heck der
Thuringia.
Dort hob, unbeachtet von den vielen vorüberströmenden Passanten, ein Eisenbahnkran gerade ein Feldgeschütz aus dem Laderaum des Schiffes. Drei gleichartige Kanonen standen bereits sicher auf dem Quai, bewacht durch eine Handvoll Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten. Und daneben stand mit missmutiger Miene Wilhelm Pfeyfer. Amalie und Rebekka stimmten darin überein, dass die simple Entladung von Waffen nun wirklich keine Aufgabe war, um die sich der Kommandeur des Sicherheits-Detachements persönlich kümmern musste, und spekulierten über die Gründe für seine Anwesenheit.
    Als Pfeyfer durch einen zufälligen Seitenblick die beiden näher kommenden Frauen bemerkte, wandte er sich ihnen sogleich zu, wechselte zu einem weniger verkniffenen Gesichtsausdruck und begrüßte sie, indem er die Hand an den Schirm der Pickelhaube legte und mit gewohnter Schneidigkeit die Hacken zusammenschlug.
    »Mein verehrter Major, hat man Sie zum Postdienst versetzt, dass Sie ankommende Frachtsendungen entgegennehmen müssen?«, neckte Amalie ihn.
    »Keineswegs, Demoiselle«, entgegnete Pfeyfer ernst. »Ich bin für die Sicherheit dieser Geschütze verantwortlich. Das dort« – er deutete auf die bereits an Land gebrachten Kanonen – »sind nämlich neuartige stählerne Hinterlader-Sechspfünder, Konstruktionen eines gewissen Herrn Krupp. Sie sollen auf dem Schießplatz Oranienburg der Erprobung unterzogen werden.«
    Nach Jahren im Schuldienst war Rebekka an die zuweilen irrational anmutenden Handlungen bürokratischer Apparate gewöhnt, doch dieses Vorgehen ließ sie dennoch irritiert die Stirn in Falten legen: »Man bringt diese sperrigen Kanonen eigens dafür über den Ozean? Wäre es nicht weitaus einfacher, sie in Berlin,

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