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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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dem der Präsident sein baldiges Kommen ankündigte, hatte der Kommandant der Marinebasis darin eigentlich nichts Ungewöhnliches gesehen. Schließlich zählte es zu Lincolns allgemein bekannten Gewohnheiten, die Truppen zu besuchen, um sich vor Ort einen Eindruck von der Lage zu verschaffen und den Soldaten sein Ohr zu leihen. Dass er aber ausgerechnet diese Visite so kurzfristig beschlossen hatte, war Paulding ein wenig eigentümlich vorgekommen. Der Brooklyn Navy Yard war zwar eine eminent wichtige Anlage, doch für einen so eilig arrangierten Besuch gab es gegenwärtig keinen Anlass. Alles verlief dort in den verlässlichen Bahnen eingespielter Routine. Nichts war vorgefallen, was so plötzlich die persönliche Anwesenheit des Präsidenten erfordert hätte.
    Nun jedoch kannte der alte Admiral den Grund. Und er war nicht sehr glücklich. Was Lincoln von ihm erwartete, bereitete ihm Unbehagen.
    Die beiden Männer schritten ohne Begleiter, die Zeugen ihres Gesprächs hätten werden können, den Quai entlang. Im Hafenbecken lagen nebeneinander aufgereiht mehrere gerade fertiggestellte Panzerschiffe vom neuartigen Typ
Monitor.
Auf jedem der flachen Rümpfe, die nicht einmal zwei Fuß über die Wasseroberfläche hinausragten, saß ein runder eiserner Geschützturm. Ansonsten waren ihre Decks nackt; ohne jegliche Aufbauten, ohne Masten glichen sie keinem anderen Schiff auf den Weltmeeren. Doch weder Lincoln noch Paulding hatten für die revolutionären Konstruktionen einen Blick übrig.
    »Ich übertrage Ihnen diese Aufgabe, weil sie unbedingte Vertrauenswürdigkeit erfordert«, legte der Präsident dar. Er hatte erahnt, welche Frage den Admiral bewegte. »Niemals dürfen die wahren Hintergründe der Geschehnisse bekannt werden. Bei Ihnen weiß ich dieses Geheimnis in guten Händen.«
    Paulding wusste, dass Lincolns Wertschätzung aufrichtig war; der Präsident hatte ihn nicht ohne Grund vor einem Jahr wieder in den aktiven Dienst gerufen und ihm bald darauf den neu geschaffenen höchsten Marinerang verliehen. Trotzdem verspürte er Beklemmung.
    Besorgt gab er zu bedenken: »Lässt es uns denn nicht unehrenhaft erscheinen, wenn wir uns der
Leviathan
auf diese Weise bemächtigen, Mr. President?«
    »Nun, wir kapern das Schiff ja nicht«, versuchte Lincoln seine Skrupel zu entkräften. »In den Augen der Welt bergen wir es in Übereinstimmung mit dem Seerecht, nachdem es ohne Besatzung treibend aufgefunden wurde.«
    »Wir sollten beten, dass die Wahrheit auf ewig verborgen bleibt«, meinte Paulding. Ein stumpfer Unterton schwang in seinen Worten mit und verriet, wie unwohl ihm zumute war.
    Lincoln blieb unversehens stehen und betrachtete nun doch noch die Monitore. »Das also sind die neuen
Ironclads,
die so viel Schrecken verbreiten und denen kein herkömmliches Kriegsschiff zur Gefahr werden kann«, sagte er mit einer kurzen Kopfbewegung in Richtung der Panzerschiffe, gerade so bemessen, dass sein hoher Zylinder nicht ins Schwanken kam.
    Dankbar für den Wechsel des Themas antwortete der Admiral: »Das stimmt, Mr. President. Aber ihr Aussehen ist für jeden echten Seemann eine Beleidigung.«
    »Wir dürfen uns nicht vom äußeren Schein leiten lassen«, meinte Lincoln und zeigte zum ersten Mal an diesem Tag ein Lächeln, das die angespannten Züge seines Gesichts ein wenig löste. »Ein Farmer, den ich vor Jahren vor Gericht vertrat, hatte diese Lektion auch lernen müssen. Ich nehme an, die Geschichte von der einäugigen Kuh ist Ihnen noch nicht bekannt, Admiral?«

8. Februar
    Die Sache sah gefährlich aus. Und mit jeder Minute verschlimmerte sich die Lage. Ein Desaster bahnte sich an.
    Eigentlich hätte Pfeyfer gar nicht dort sein müssen. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zählte nicht zu seinen Aufgaben. Aber als ihn im Laufe des Vormittags immer neue Meldungen über die sich dramatisch zuspitzende Situation erreicht hatten, war er spontan aufgebrochen, um sich vor Ort selbst einen Eindruck zu verschaffen.
    Bereits auf dem Weg durch die Straßen Friedrichsburgs war ihm bewusst geworden, dass etwas in der Luft lag. Auf der Stadt lastete drückend eine sonderbare, zum Bersten angespannte Atmosphäre. Solchen irrationalen Wahrnehmungen misstraute Pfeyfer für gewöhnlich, doch heute alarmierten sie ihn. Überall sah er Menschen, die sich gereizt und feindselig gegenseitig belauerten oder sogar aus nichtigen Anlässen in offenen Streit ausbrachen.
    Die Frontlinien waren allenthalben unverkennbar, Schwarze

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