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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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standen Weißen gegenüber. Das war die Wirkung der Vorgänge vor
Metzler’s Alcazar,
die sich in Windeseile herumsprachen. Und wenn es dort zur Katastrophe kam, würden bald in der ganzen Stadt Mord und Totschlag herrschen. Pfeyfer spürte, wie Karolina einem klaffenden Abgrund entgegenraste, gleich einer führerlosen Lokomotive.
    Als er den
Alcazar
erreichte, verschlug es ihm den Atem. Erst jetzt erkannte er das ganze Ausmaß der Gefahr. Im Herkulessaal des Konzerthauses hielten an diesem Tag Delegierte der mannigfaltigen liberalen politischen Vereine Preußisch-Amerikas einen lange angekündigten Kongress ab. Sie wollten sich auf ein gemeinsames Vorgehen einigen, um mit vereinten Kräften Karolina aus dem Würgegriff der Krise zu befreien. Dabei galt es als beschlossene Sache, dass die Liberalen nahezu einmütig entscheiden würden, die Regierung ultimativ zur Anerkennung der Konföderierten Staaten aufzufordern, damit Baumwolle und Wohlstand zurückkehrten. Und sie würden übereinkommen, die Loslösung Karolinas von Preußen zu betreiben, sollte diese Forderung zurückgewiesen werden.
    Dass diese Absichten Unmut und heftige Proteste provozieren mussten, war von vornherein klar gewesen. Schon im Vorfeld hatten Konservative Gift und Galle gegen die ihrer Ansicht nach verräterischen, mit Sklavenhaltern sympathisierenden Liberalen gespuckt und zu einem Protestmarsch aufgerufen. Der besorgte Kronprinz hatte deswegen angeordnet, den Platz vor dem
Alcazar
militärisch zu sichern, um jeglichen gewalttätigen Zusammenstoß zwischen den verfeindeten Lagern zu unterbinden.
    Die Maßnahme war vernünftig gewesen. Doch mit Entsetzen stellte Pfeyfer fest, dass sich statt der erwarteten dreihundert oder vierhundert Menschen einige Tausend vor dem Konzerthaus ballten. Bis in die Seitenstraßen standen sie dicht an dicht, vorwiegend Schwarze und Mulatten, doch auch eine beträchtliche Zahl Weißer, die ihren Hass auf die liberalen Delegierten herausschrien. Die wogende, brüllende Masse verschmolz zu einem einzigen Wesen, einem gewaltigen Raubtier, das die Muskeln zum Sprung spannte.
    Es gelang dem Major unter erheblichen Mühen, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen und zu der Postenkette zu gelangen, die den
Alcazar
sicherte.
    Ach du Scheiße!,
war sein erster Gedanke, als er die Linie der Soldaten erreichte. Eine einzige unterstarke Kompanie von knapp hundert Mann stand den Tausenden gegenüber. Noch hielten die Menschen der vordersten Reihen widerstrebend Abstand zu der Doppelreihe Füsiliere; aber Pfeyfer ahnte, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sich die aufgeputschte Menge in Bewegung setzte und vorwärtsdrängte.
    Die Posten ließen ihn anstandslos passieren; unverzüglich begab er sich zum kommandierenden Offizier. Hauptmann Deschamps zählte nicht unbedingt zu seinen wenigen Freunden, aber sie kannten sich recht gut. So bleich und überreizt wie heute hatte er ihn jedoch noch nie erlebt. Deschamps’ Nerven lagen unverkennbar blank.
    »Die wollen die Köpfe der Liberalen, die da drinnen hocken und schlottern«, schnaufte der Hauptmann mit zusammengebissenen Zähnen. »Und verdammt, die holen sie sich! Bald bricht hier die Hölle los, dann überrennen die uns einfach.«
    Deschamps hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da traf ihn ein in hohem Bogen durch die Luft geschleuderter Pflasterstein am Hinterkopf. Er stieß ein Keuchen aus und sackte vornüber zu Boden.
    Auf der Stelle warf Pfeyfer sich schützend über ihn. Erst als keine weiteren Wurfgeschosse folgten, wälzte er den Hauptmann zügig auf den Rücken und stellte erleichtert fest, dass dieser am Leben und bei Bewusstsein war.
    »Verflucht, mein Schädel!«, röchelte Deschamps. Er versuchte sich aufzurichten, verzerrte aber schon bei der ersten Bewegung das Gesicht vor Schmerzen.
    Kategorisch befahl Pfeyfer ihm, liegen zu bleiben und sich ja nicht zu rühren. Rasch vergewisserte er sich, dass der benommen stöhnende Deschamps nicht schwerwiegend verletzt war. Dann sprang er auf und verkündete so laut er konnte, damit ihn trotz des Lärms die gesamte Kompanie vernahm: »Ich übernehme das Kommando! Alle Orders bleiben in Kraft! Ruhe bewahren!«
    Er spähte über die Postenkette hinweg und fand seine Befürchtungen bestätigt. Die Masse geriet in Bewegung. Der Korridor zwischen den vordersten Protestierenden und den Soldaten schrumpfte zollweise zusammen. Und die Emotionen kochten unablässig höher. Jetzt richtete sich der Zorn der Menschen

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