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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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verspürte eine schreckliche Vorahnung.
    Herr, hilf ihm. Er kann nicht anders,
flehte sie, während sie dem sich entfernenden Zug nachsah.
     
    * * *
     
    Alvin Healey saß am Schreibtisch, einen Bleistift in der Hand und vor sich ausgebreitet eine Reihe von Dokumenten. Eigentlich wollte er sich um die letzten ausstehenden Rechnungen für Umbau und Beladung der
Leviathan
kümmern. Aber er hatte in einer ganzen Stunde noch keinen einzigen Betrag kalkuliert. Stattdessen schaute er mit abwesender Miene auf das staubverschleierte Fenster, ohne etwas wahrzunehmen. Mit den Gedanken war er einzig und allein bei Amalie von Rheine, wie so oft in den vergangenen Tagen.
    So viele Wochen hatte er Zeit gehabt, Fräulein Amalies Herz zu gewinnen, doch es war ihm nicht gelungen. Nun kam er sich vor, als hätte er ein unsagbar großzügiges Geschenk des Schicksals leichtsinnig vergeudet.
    Aber was hätte ich denn tun sollen? Ich muss mich doch erst auszeichnen, ihre Achtung erlangen. Durch Mut, durch eine große Tat, durch irgendetwas, wodurch sie wirklich stolz auf mich sein kann. Ansonsten bin ich ein Nichts.
    Der Bleistift glitt Healey aus der Hand, rollte über den Tisch und fiel klappernd auf den Boden. Das Geräusch ließ ihn zusammenzucken, als wäre er unvermittelt aus der Ferne eines Tagtraums erwacht. Er stand auf, ging hinüber zum Fenster und wischte mit dem Ärmel ein kleines Stück der Staubschicht fort.
    Die menschenleere Straße wurde erkennbar; die buckligen Pflastersteine glänzten dunkel vom Nieselregen.
    Ich bin doch nichts weiter als ein gottverdammter Feigling,
dachte er.
Verzagt und unentschlossen, so muss ich auch auf Fräulein Amalie wirken. Ist es da ein Wunder, dass meine Gegenwart ihr zuletzt missfallen hat?
    Draußen rumpelte ein Fuhrwerk vorüber. Kutscher und Pferd waren durchnässt, und die Hühner in den Käfigen auf der offenen Ladefläche ließen stumm die Köpfe hängen. Healey nahm nichts davon zur Kenntnis. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich Vorhaltungen zu machen. Er biss sich auf die Unterlippe, wütend auf sich selbst. Ihm war klar, dass die
Leviathan
nun jeden Tag eintreffen konnte, und mit ihr Doktor Täubrich. Er hatte verloren.
    »Nein! Nein, verflucht, noch nicht!«, stieß er auf trotzig hervor.
    Möglicherweise gab es für ihn noch eine letzte Chance. Er wollte vor Fräulein Amalie treten und ihr sagen, was er schon längst hätte sagen sollen. Vielleicht war es nur diese ganz einfache Form des Mutes, die er aufbringen musste, um das unerreichbar Scheinende zu erreichen. Nichts weiter.
    Healey ging zurück zum Schreibtisch, zog eine der Schubladen auf und entnahm dem Fach mit dem ohnehin nie benötigten Portogeld einige Silbergroschen. Damit wollte er für morgen den prächtigsten Blumenstrauß bestellen, der sich zu dieser Jahreszeit bekommen ließ. Dann nahm er Hut und Überrock und verließ eilig das Büro, um sich auf den Weg zu der Blumenhandlung nahe dem Prinzenplatz zu machen. Der Regen hatte mittlerweile nachgelassen, nur einige verirrte Tropfen taumelten noch vom Wind getrieben vom Himmel herab.

Auf dem Atlantik
    Georg Täubrich stieg aus dem Treppenaufgang hinaus ans Oberdeck. Er hoffte, dass die Nachtluft ihm helfen würde, seinen Ekel hinunterzuwürgen. Hendricks hatte sich beim Abendessen in der Offiziersmesse erneut darüber ausgelassen, welche Widerwärtigkeiten er den verhassten Yankees am liebsten antun würde. So war es auch an den vorhergehenden Tagen gewesen, doch heute hatten die sadistischen Rachephantasien des Kapitäns einen Grad der Perversität erreicht, der für Täubrich zuvor unvorstellbar gewesen war. Die bleich und betreten dreinblickenden britischen Schiffsoffiziere mochten durch ihre Stellung in der Hierarchie gezwungen sein, sich Hendricks’ Abartigkeiten anzuhören; doch der Doktor war noch vor dem Hauptgang brüsk vom Tisch aufgestanden und hatte sich in stummem Protest entfernt.
    Er ging das Deck entlang und holte tief Luft, um den Kopf frei zu bekommen. Kalter Wind umwehte ihn und trug sofort die weißen Wolken davon, die ihm bei jedem Atemzug aus dem Mund traten. Hinter sich hörte er die Schritte seiner Aufpasser, die ihm auch jetzt wie Schatten folgten.
    Er wünschte sie zum Teufel. Sie erinnerten ihn beständig an sein Versagen.
    Ganz vorne am Bug angelangt hielt Täubrich inne. Er stützte sich mit den Händen auf die Bordwand und blickte in die Ferne. Das Meer war tintenschwarz wie der klare Nachthimmel; es schien, als führe

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