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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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befand sich bei ihnen und inspizierte das vollbrachte Werk. Als Täubrich, von seinen Bewachern vorwärtsgetrieben, zu ihm taumelte, formte sein zerfurchter Mund das Zerrbild eines Lächelns.
    »Guten Morgen, Doktor«, begrüßte er den Arzt gut gelaunt. »Erwähnte ich eigentlich bereits, dass ich Engländer beinahe ebenso sehr hasse wie Yankees?«
    »Sie haben sie alle ermordet«, keuchte Täubrich benommen.
    »Bauernopfer«, entgegnete der Kapitän wegwerfend. »Tot sind sie wenigstens nützlich für uns. Ihre Leichname werden so arrangiert, das es wirkt, als hätten sie sich im Streit gegenseitig bis auf den letzten Mann massakriert.«
    Täubrich rang um Fassung. Er konnte kaum denken. »Ich – ich verstehe nicht«, presste er mühsam hervor.
    »Nun, es soll so aussehen, als hätten einige versucht, das Schiff den Yankees auszuliefern«, erklärte der Südstaatler, der sich sichtlich an den Reaktionen seines Gegenübers weidete. »Und die anderen wollten das verhindern. Darüber kam es zum Streit, der dann ein tragisches Ende nahm. Höchst effektvoll, finden Sie nicht auch?«
    Die kaltblütige Nonchalance, mit der Hendricks das perverse Kalkül darlegte, brachte Täubrich so sehr auf, dass seine wattige Benommenheit schlagartig von ihm abfiel. »Sie sind verrückt! Niemand wird das glauben!«, stieß er wutentbrannt hervor.
    »Sie irren. Der Gorilla im Weißen Haus wird es glauben«, entgegnete Hendricks. Er hob seinen einzigen Arm und gab ein Zeichen in Richtung Ruderhaus.
    Täubrich begriff nicht, worauf der Kapitän mit dieser Bemerkung hinauswollte. Er versuchte auch nicht, es zu begreifen. Alle Kraft seines Verstandes brauchte er schon dafür, sich dem Wahnsinn entgegenzustemmen, der ihn umgab.
    Da ergoss sich plötzlich gleißend helles Licht über Hendricks’ entstelltes Gesicht, über die leblosen Körper am Boden, über das Blut, das nun in tiefroten Rinnsalen zwischen den groben Decksplanken entlangsickerte. Das elektrische Leuchtfeuer an der Spitze des Großmasts erstrahlte grell und entriss die
Leviathan
der Nacht.

15 Seemeilen westlich
    Lieutenant Cockburn, Erster Offizier des Kanonenboots USS
Fort Harrison,
brauchte nicht einmal durch sein Fernglas zu sehen. Der soeben aus dem Nichts am Horizont aufgeflammte Lichtfleck strahlte so hell, dass er ihn mit bloßem Auge mühelos auszumachen vermochte. Sofort ließ er dem Kommandanten Bescheid geben.
    Nicht einmal zwei Minuten später erschien Captain Drummond auf der Brücke. Ein einziger Blick auf das Leuchten in der Ferne genügte ihm, um sich seiner Sache gewiss zu sein. Von keinem anderen Schiff auf allen Weltmeeren konnte ein Licht solcher Stärke ausgehen.
    »Das ist das angekündigte Zeichen von der
Leviathan«,
stellte er fest. »Damit treten die Befehle des Admirals in Kraft. Signalraketen abfeuern, Lieutenant.«
    Cockburn bestätigte und lief los, um die Order unverzüglich weiterzugeben. Kurz darauf stiegen von der
Fort Harrison
nacheinander sechs Raketen auf und barsten hoch am Nachthimmel mit weithin sichtbarem grünem Feuerschein. Die vor der Küste bereitliegenden Schiffe der US Navy waren alarmiert. Die Operation begann.
     
    Hendricks humpelte die Treppe hinab ins Schiffsinnere; auf jede Stufe setzte er zuerst seine schwere hölzerne Beinprothese und zog dann mit dem verbliebenen Fuß nach, bis er endlich das einstige untere Passagierdeck erreichte.
    »Sie wollten ja in Hamburg etwas über die Bestimmung der
Leviathan
herausfinden«, sagte er zu Täubrich, der ihm mit zwei Schritten Abstand folgte. »Warum Sie jetzt noch länger im Unklaren lassen? Es ist mir sogar ein besonderes Vergnügen, Sie aufzuklären.«
    Der Arzt erwiderte nichts. Schweigend ging er hinter Hendricks den schmalen Gang entlang, der zwischen den lückenlos verstauten Pulverfässern verlief. Er gab sich keiner falschen Hoffnung hin. Der Kapitän würde ihn nicht am Leben lassen, denn er hatte Dinge gesehen, von denen niemand erfahren durfte. Und wenn Hendricks sich jetzt erzählfreudig gab, dann war das nichts weiter als das grausame Spiel einer Katze mit der gefangenen Maus. Es gab keine Rettung.
    Der Kapitän öffnete die Tür zu einer der wenigen verbliebenen Passagierkabinen und führte den Doktor hinein. In dem Raum befanden sich keine Möbel mehr, die breite Polstercouch war ebenso entfernt worden wie die eleganten Tische, Stühle, Teppiche und Vorhänge. Leere Nischen klafften in den Wänden, wo sich zuvor die herausklappbaren Betten befunden hatten. Von

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