Die Fahrt des Leviathan
konnte aus jedem Zucken seiner Augen, aus jeder fahrigen Regung der Hände, ablesen, wie beunruhigt er in Wirklichkeit sein musste. Einmal mehr fand Täubrich bestätigt, was er schon oft festgestellt hatte: Der menschliche Körper war ein schlechter Lügner.
Vor einem Lagerhaus in der Nordbai-Straße kam die Droschke zum Stehen. Bis vor wenigen Jahren war diese Gegend am Ostrand der Unterstadt Tag und Nacht von rastloser Geschäftigkeit erfüllt gewesen. Hier, am Ufer des Cooper-Flusses, befanden sich die Piers, an denen die Schiffe festgemacht hatten, um Baumwolle, Tabak, Reis und Indigo an Bord zu nehmen und Europas unersättlichen Hunger nach diesen Gütern zu bedienen. Doch seitdem die neuen Hafenanlagen in Betrieb waren, lagen die meisten Quais und Gebäude verwaist und warteten auf den Abbruch.
Pfeyfer stieß die Tür auf und sprang ungeduldig aus der Droschke. Eine Gaslaterne warf ihr hartes Licht auf die schmucklose Ziegelfassade des Depots, auf der in zwei Fuß hohen weißen Buchstaben die Worte
Waaren-Lager der Richmond-Handelsgesellschaft
aufgemalt waren.
Die in den linken Flügel des großen Holztors eingelassene Schlupftür stand offen, ein Lichtkeil fiel aus dem Inneren auf die Straße. Der Schutzmann, der den Zugang bewachte, stand beim Anblick des Majors stramm und schickte sich an, Meldung zu machen. Pfeyfer ignorierte ihn und lief an ihm vorbei in das Lagerhaus, ohne auf den hinterhereilenden Doktor Täubrich zu warten.
Es war ein Ort des Todes.
Zwei Männer lagen auf dem Boden. Einer von ihnen war Friedrich Heinze. Sein Körper ruhte halb verdreht auf der linken Seite, seine erloschenen Augen blickten starr ins Nichts. Auf seiner Brust breitete sich ein unregelmäßiger dunkler Fleck rings um ein kleines Loch im Uniformmantel aus. Der hellgraue Stoff hatte sich mit Blut vollgesaugt. Neben ihm lag die Schirmmütze, die ihm im Sturz vom Kopf gefallen war. In der rechten Hand hielt er noch immer seinen Revolver.
Ihm gegenüber, nur etwa sieben Fuß entfernt, befand sich der andere Tote. Ein magerer, fast kahler Mann in mittleren Jahren, dessen schmaler Körper auf dem Rücken lag. Die goldgeränderte runde Brille war ihm von der Nase gerutscht und hing nur noch an einem Ohr. Unter dem ölverschmierten Mechanikerkittel war eine teure, bestickte Seidenweste sichtbar. Die Finger seiner Rechten umklammerten den Griff eines Colts. Sein Hals war geradezu zerfetzt. Neben ihm hatte sich eine große Blutlache auf den groben Holzdielen gebildet.
Pfeyfer spürte, wie seine Knie nachzugeben drohten. Er musste sich an einen Stapel Kisten lehnen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Herr Jesus, bitte nicht!,
raste es durch seinen Kopf.
Das ist ein Albtraum, das muss ein Albtraum sein. Lass mich aufwachen, Gott! Lass mich aufwachen!
Doch er wusste, dass er nicht aufwachen würde. Sein bester Freund war tot. Nichts würde an dieser Realität etwas ändern.
Wachtmeister Duncan, der im Inneren des Lagerhauses bei den beiden Leichen Wache gehalten hatte, war sichtlich unschlüssig, wie er reagieren sollte. Er sah natürlich, dass Pfeyfer sich nicht wohlfühlte und vielleicht Hilfe benötigte; aber er konnte ihn nicht darauf ansprechen, ohne sich einer unerhörten Impertinenz schuldig zu machen. Ein Untergebener durfte nicht Zeuge menschlicher Schwächen Ranghöherer sein, da es solche vielleicht den Respekt mindernden Schwächen nicht zu geben hatte. Doch konnte er allein um der Subordination willen untätig bleiben, wenn ein Offizier vor seinen Augen litt?
Dieses Dilemma, das ihm wahrnehmbar zusetzte, wurde jedoch schon nach wenigen Augenblicken aufgelöst. Doktor Täubrich wandte sich an ihn, so dass Duncan sich von Pfeyfer abwenden und somit guten Gewissens behaupten konnte, den Zustand des Majors nicht zur Kenntnis zu nehmen.
»Haben Sie die Toten aufgefunden?«, wollte Täubrich wissen.
»Jawohl, Herr Doktor«, bestätigte der Wachtmeister. »Ich und Schutzmann Litzow, der draußen Wache steht.«
Der Arzt ging neben Heinze in die Hocke und schloss ihm die Lider »Wann war das?«
»Die Kirchturmuhr hatte kurz zuvor elf geschlagen, Herr Doktor.«
Täubrich quittierte die Antwort mit einem Nicken und sagte halblaut, an niemanden gerichtet: »Vor einer runden Dreiviertelstunde also …«
Mittlerweile hatte Pfeyfer sich gefangen. Er war nach wie vor erschüttert, doch seine Selbstdisziplin gab ihm jetzt wieder Halt. Er löste sich von dem Kistenstapel und trat vor. Entschlossen übernahm er die
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