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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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steckte den Brief in die Tasche. Die Mitteilung seines Gewährsmannes in New York bestätigte exakt seine Einschätzungen. Nunmehr stand fest, dass die Reparaturen am Rumpf der
Great Eastern
großen Aufwand und viel Geld erfordern würden. Geld, das die Great Ship Company nur auszugeben bereit sein konnte, weil es keine Alternative gab. Genau diese Alternative aber wollte Kolowrath ihnen präsentieren. So verlockend und unwiderstehlich, dass die Direktoren der Reederei überhaupt keine andere Wahl haben würden, als das Angebot anzunehmen und sich des lästigen Giganten der Meere zu entledigen.
    Er öffnete die bunt verglaste Tür und trat hinaus auf die Veranda. Von der kleinen Anhöhe, auf der sich das Haus befand, hatte er einen exzellenten Blick über die gesamte Bucht von Friedrichsburg. Das goldene Licht der tief stehenden Novembersonne spielte auf den Wellen, tausendfach gebrochen, rastlos glitzernd und in ständiger Veränderung begriffen, während über dem Wasser Möwen mit weit ausgebreiteten Schwingen elegant ihre Kreise zogen.
    Nichts von alledem nahm Kolowrath wahr. Er sah dort nur eine Bucht, die durch die jüngsten Erweiterungen des Hafens tief genug ausgebaggert war, um auch ein großes, ein sehr großes Schiff aufzunehmen. Ja, selbst das größte Schiff der Welt.
    Die Dinge entwickelten sich ganz nach seinem Kalkül. Kolowrath empfand eine gewisse Genugtuung.
     
    * * *
     
    Präzise geschnittene niedrige Hecken umschlossen gepflegte Rasenflächen, die zu betreten selbstverständlich durch allerorten aufgestellte Schilder strengstens untersagt war, und rahmten prächtige Magnolienbäume ein. Zwischen den streng arrangierten Grünanlagen, die den Platz vor dem Friedrichsburger Bahnhof zierten, führte eine breite Asphaltallee schnurgerade in Richtung des Bahnhofsgebäudes.
    Mit schnellen Schritten hielt Pfeyfer auf das voluminöse Bauwerk zu, dessen vielzackige neugotische Ziegelfassade sich zwischen den zurückhaltenden weißen Bauten ringsumher eigenartig deplatziert ausnahm. An den schlanken Uhrtürmen zu beiden Seiten des Portals holten Bahnbedienstete gerade die schwarz-weißen Banner ein, die man aus Anlass der Königsvisite dort aufgehängt hatte.
    Pfeyfer war dankbar dafür, dass sich der Himmel nun doch noch mit Wolken bedeckt hatte. Bei Sonnenschein konnte der lange Weg zum Bahnhof selbst im frühen November noch recht unangenehm sein, denn die Palmen entlang der Allee waren noch jung und spendeten auf den großzügig angelegten Trottoirs so gut wie keinen Schatten. Er wollte Rebekka Heinrich mit Bestimmtheit und Autorität begegnen; Schweiß, der unschön unter der Uniformmütze hervortrat und über sein Gesicht rann, wäre der Wirkung seines Auftretens abträglich gewesen.
     
    Die Auffahrt vor dem Bahnhofsportal war belebt, doch längst nicht so überfüllt mit Reisenden, wartenden Droschken, fliegenden Händlern und gepäckschleppenden Dienstmännern wie noch zwei Jahre zuvor. Vor Ausbruch des Bürgerkriegs waren begüterte Amerikaner dem harschen Winter New Yorks oder Neuenglands gerne entflohen, indem sie sich Häuser in Karolina mieteten und die Monate von November bis Februar im milden Klima Friedrichsburgs oder der Küstenorte verbrachten. Mit ihnen war Jahr um Jahr viel Geld in die Provinz geflossen, und so mancher Einheimische hatte einen erheblichen Teil seines Lebensunterhalts auf die eine oder andere Weise durch die Anwesenheit der verlässlich wiederkehrenden Amerikaner bestritten. Die Rebellion der Südstaaten hatte alledem ein jähes Ende bereitet. Die reichen Wintergäste blieben nun schon im zweiten Jahr aus, und ihr Fehlen machte sich schmerzlich bemerkbar.
    Ein Zeitungsjunge strapazierte seine Stimmbänder, um die Nachmittagsausgabe des
Friedrichsburger Merkur
an den Mann zu bringen. Für einen Moment beabsichtigte Pfeyfer, rasch ein Exemplar zu kaufen. Die Meldung, dass ein Unionsgeneral mit starken Kräften aufgebrochen sei, um den Konföderierten die eminent wichtige Festungsstadt Vicksburg am Mississippi zu entreißen, weckte sein Interesse. Doch dann entschied er sich anders. Letztlich, so dachte er, handelte es sich vermutlich nur um eine weitere dilettantisch geplante, konfus ausgeführte und zum Scheitern verurteilte Operation des Nordens, angeführt von einem der vielen Generäle, die mit gewaltigem Blutzoll nichts weiter erreichten, als ihr eigenes Unvermögen unter Beweis zu stellen. Dafür wollte er dann doch keine fünf Pfennige vergeuden. Er ging an dem

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