Die Fahrt des Leviathan
schlechten Scherzes des Schicksals wurde. Vielleicht hätte er unter anderen Umständen sogar ein mattes Lächeln über die ausgesucht geschmacklose Boshaftigkeit aufbringen können, mit der ihn das Geschick ausgerechnet in einer unangenehm riechenden Toilette einsperrte. Doch gerade jetzt vermochte er dieser Ungelegenheit nicht den kleinsten Funken zynischen Humors abzugewinnen. Jede Minute würde der Zug eintreffen; er konnte Charles Beaulieu unmöglich warten lassen und ihm später als Entschuldigung erzählen, er sei in einem Abort gefangen gewesen.
Hektisch rüttelte Healey am Griff und hämmerte mit der Faust gegen die Tür, um auf sich aufmerksam zu machen. Niemand hörte ihn.
Die durchdringenden Signale von Lokomotivpfeifen ließen Pfeyfer aufmerken. Er blickte in Richtung des großen Torbogens, durch den die Gleise in die Halle führten, und sah, dass sich zwei Züge näherten. Der linke, laut Tafel der verspätet eintreffende Personenzug aus Preußisch-Pagot, interessierte Pfeyfer nicht. Für ihn war nur der auf dem rechten Gleis ankommende Schnellzug aus Borussia, mit dem Rebekka Heinrich zurückkehrte, von Bedeutung. Noch einmal überprüfte Wilhelm Pfeyfer den korrekten Sitz seiner Uniform, denn er beabsichtigte, der Schuldirektorin als perfekte Verkörperung staatlicher Autorität entgegenzutreten. Dann setzte er schon vorsorglich die obrigkeitlichste Miene auf, die ihm zu Gebote stand.
Nahezu parallel liefen die beiden Züge auf den gegenüberliegenden Gleisen des Bahnsteigs ein und kamen unter metallischem Kreischen zum Stillstand. Aus den Schloten der blau lackierten Borsig-Lokomotiven stieg ein letzter Rest schwarzgrauen Qualms auf. Aus den Zylindern entwich unter lautem Zischen der Dampf in dichten weißen Wolken, während das Stampfen und Schnauben der Maschinen erstarb.
Ein Bahnbeamter schritt den Bahnsteig entlang und rief aus Leibeskräften mit volltönender Predigerstimme mehrmals den Namen der Stadt aus, während die vielen Türen der kurzen, bunten Waggons sich öffneten und die Passagiere aus den Abteilen stiegen. Träger eilten heran, um den Reisenden das Handgepäck abzunehmen oder große Koffer aus den Packwagen an den Enden der Züge zu holen.
Bob seufzte. Er war für den schwach besetzten Personenzug aus Preußisch-Dillon zuständig. Die Trinkgelder würden mager ausfallen, das erkannte er sofort. Nur wenige Menschen waren aus dem Norden eingetroffen; dieser Tage herrschte kein reger Reiseverkehr zwischen North Carolina und Karolina.
Er ging auf den gelben Wagen erster Klasse zu, da seiner Erfahrung nach dort am ehesten mit großzügigen Passagieren zu rechnen war. Doch dann erstarrte er mitten in der Bewegung wie versteinert.
Aus einem der Abteile war ein Mann in einem weißen Anzug gestiegen.
Bob kannte dieses Gesicht. Jede Einzelheit hatte sich unauslöschlich in sein Hirn eingebrannt, von den kalten blauen Augen bis zu dem spitz nach den Seiten ausgreifenden dunklen Bart, der einen in grausam harten Linien geformten Mund überschattete. Die Finger der rechten Hand hielten den schweren Silberknauf eines Gehstocks umschlossen, doch Bob sah dort die Reitgerte, die Haut wie Papier zerfetzt hatte.
Bob war in Todesangst.
Herr Jesus, wenn er mich bemerkt!,
schoss es ihm durch den Kopf. Er sah sich schon tot am Boden liegen, in seinem eigenen Blut, mit aufgerissenen, schreckgeweiteten Augen. Er musste flüchten! Aber er schaffte es nicht einmal, sich umzudrehen und dem Mann den Rücken zu kehren. Für endlos scheinende Fragmente von Augenblicken war er vollkommen gelähmt, unfähig selbst zur geringsten Bewegung.
Dann aber erlangte er schlagartig die Gewalt über seinen Körper zurück. Bob sprang auf der Stelle hinter einen Karren mit Postsäcken und kauerte sich nieder. Sein Herz schlug jagend schnell; kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Er biss die Zähne zusammen und regte sich nicht. Keine Macht der Welt würde ihn aus seinem Versteck bringen, ehe nicht die Gefahr vorüber war.
Charles Beaulieu war ungehalten. Die ermüdende mehrtägige Reise war schon ärgerlich genug gewesen. Doch die letzte Etappe nach dem Umsteigen an der Grenze hatte er als unerträgliche Zumutung empfunden.
Mit zwei verdammten Niggern in ein Abteil gepfercht! Eine Beleidigung, eine gottverfluchte Beleidigung!,
dachte er wütend. Und nun war noch nicht einmal jemand hier, um ihn abzuholen.
Eine bedrohliche Zornesfalte wölbte sich zwischen seinen dunklen Augenbrauen. Seine Hand
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