Die Fahrt des Leviathan
umfasste den Silberknauf des Gehstocks so fest, dass die Fingerknöchel knackten.
Rebekka Heinrich setzte den Fuß vorsichtig auf das schmale Trittbrett und entstieg dann dem Abteil. Nach der langen Fahrt hatte sie das Bedürfnis, sich erst einmal kräftig zu strecken, widerstand diesem Drang aber. Dabei ließ sie sich jedoch nicht von Erwägungen über schickliches Benehmen leiten; sie hatte die gängigen Ansichten, wie sich eine Frau zu verhalten habe, nämlich längst als völlig willkürliche Beschränkungen entlarvt, für die sie nur sarkastische Abschätzigkeit übrig hatte. Vielmehr hinderte sie die weitaus handfestere Einengung durch das unbequeme Korsett daran, sich zu strecken.
Sie schüttelte den Rock, der durch die Enge des Abteils ein wenig zusammengedrückt war, wieder in Fasson, setzte ihren Hut auf und verschloss das seidene Hutband mit einer Schleife unter dem Kinn. Durch einen kurzen Blick in die spiegelnde Scheibe eines Abteilfensters vergewisserte sie sich, dass sie präsentabel aussah, und machte sich dann auf, den Perron zu verlassen.
Als sie sich dem Ende des Bahnsteigs näherte, bemerkte sie die nicht zu übersehende Gestalt Major Pfeyfers, der am Durchgang stand. Sie ahnte, dass er ihretwegen hier war, um sie mit neuen Vorhaltungen und Warnungen zu bedenken. Doch obwohl Rebekka sich eigentlich über diese penetrante Schulmeisterei ärgern wollte, war sie eher versucht, laut zu lachen. Wie der Major dort stand, mit todernster, gewichtiger Miene und der stocksteifen Haltung eines Zinnsoldaten, fand sie unermesslich komisch. Sie wusste schon jetzt, dass es ihr nicht leichtfallen würde, die bevorstehenden Belehrungen mit dem nötigen Ernst entgegenzunehmen und zu kontern.
Rebekka setzte ein Lächeln auf, das geschickt in der Mitte zwischen Liebenswürdigkeit und Sarkasmus lag, und ging schnurstracks auf Pfeyfer zu.
»Einen wunderschönen guten Tag, mein geschätzter Herr Major«, begrüßte sie ihn mit dezent überdosiertem Entzücken. »Wie aufmerksam von Ihnen, mich willkommen zu heißen. Ich bin hocherfreut.«
Pfeyfer legte zum Gruß die Hand an den Mützenschirm und deutete mit einem knapp bemessenen Neigen des Kopfes eine Verbeugung an. »Sie sollten sich nicht über mich lustig machen, Fräulein Heinrich«, erwiderte er ernst. »Meine Anwesenheit hier hat, wie Sie sich gewiss bereits denken, einen durchaus nicht amüsanten Hintergrund.«
»Sieh einer an. Möchten Sie mir neuerliche Ermahnungen erteilen, damit ich aufhöre, meine Meinung allzu freimütig zu äußern?«
»Nein, diesmal wende ich mich an Sie, weil ich mich verpflichtet fühle, Ihnen eine eindringliche Warnung zukommen zu lassen.« stellte Pfeyfer klar. »Ich erfuhr, dass Ihre Aktivitäten nun auch weit höheren Orts Missfallen erregen. Wenn Sie sich nicht besinnen, werden Sie zweifelsfrei schon bald Konsequenzen zu gewärtigen haben.«
Rebekkas Lächeln blieb unverändert. Ihre Stimme hingegen wechselte übergangslos zu einem Tonfall ruhiger Entschiedenheit: »Äußerst freundlich von Ihnen, mir diesen Hinweis zukommen zu lassen. Doch wenn Sie denken, ich würde deswegen fortan meine Ansichten furchtsam für mich behalten, muss ich Sie enttäuschen. Ich lasse mir nicht den Mund verbieten, auch nicht von höheren Orts. Ich pfeife auf diese Warnung!«
Sie sah dem Major trotzig direkt in die Augen und genoss, dass er für einen Moment nicht wusste, was er entgegnen sollte.
Mit aller Kraft versuchte Healey, den Türgriff zu bewegen. Er stemmte sich mit beiden Füßen von der Wand ab, hielt mit beiden Händen die Klinke umklammert und zog so verbissen, dass die Adern an seinen Schläfen anschwollen.
Urplötzlich löste sich der verklemmte Riegel tatsächlich. Die Tür sprang auf, Healey stürzte hinaus in den Vorraum des Aborts und kam der Länge nach auf dem Boden zu liegen. Etwas perplex über die unverhofft wiedererlangte Freiheit, rappelte er sich wieder auf, holte seinen davongerollten Bowler-Hut aus der Ecke hervor und verließ dann eilig die Toilette, um vielleicht doch noch rechtzeitig auf dem Bahnsteig zu sein, um Beaulieu in Empfang zu nehmen.
Beaulieu verlor die Geduld. Wenn ihn niemand abholte, würde er sich halt auf eigene Faust auf den Weg machen. Wütend ging er auf den Ausgang des Bahnsteigs zu.
Er sah, dass der Durchgang halb versperrt war durch eine aufgeputzte Mulattin, die gerade dort mit einem schwarzen Eisenbahner schwatzen musste. Unbeirrt hielt er auf die beiden zu. Sie hatten ihm
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