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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Zeitungsverkäufer vorüber, stieg die Stufen der Freitreppe empor und durchschritt das Eingangsportal.
     
    »Etwa fünfzehn Minuten, mein Herr«, antwortete der Bahnbeamte. »Diese Verzögerung ist dem verspätet im Grenzbahnhof Preußisch-Pagot eingetroffenen amerikanischen Anschlusszug aus Fayetteville geschuldet, vor dessen Ankunft der Zug dort nicht hatte abfahren können. Bedauerlicherweise sind die amerikanischen Bahngesellschaften unzuverlässig.«
    Healey nahm die Auskunft mit einem gleichmütigen Nicken und der beiläufigen Beteuerung seines Dankes entgegen. Die Geringschätzung des Beamten für die amerikanischen Eisenbahnen traf ihn nicht. Er hatte sich nicht als Amerikaner zu erkennen gegeben und wusste daher, dass der Vorwurf nicht an ihn adressiert war. Außerdem fühlte er sich nicht getroffen. Die meisten Südstaatler, das war ihm klar, hätten sich durch diese Äußerungen zweifellos persönlich beleidigt und in ihrer Ehre gekränkt gewähnt, wären aufgebraust und hätten ihrem heißblütigen Temperament entsprechend Satisfaktion gefordert. An Healey hingegen perlten derartige Dinge wirkungslos ab. Stolz konnte auf dem Boden seiner trübsinnigen Gleichgültigkeit nicht gedeihen.
    Er schaute auf die große Uhr, die über der Tafel mit den ankommenden und abgehenden Zügen in die Wand eingelassen war. Der gotisch verschnörkelte Minutenzeiger rückte gerade auf die Elf vor. Eigentlich wollte Healey bis zum voraussichtlichen Eintreffen des Zuges um zehn nach vier auf dem Perron warten, doch dann verspürte er unvermittelt ein dringendes Bedürfnis. Er blickte sich um und fand zu seiner Erleichterung fast augenblicklich ein Schild, das ihm den Weg wies. Er verließ die Bahnsteighalle, begab sich in die ausgewiesene Richtung und verschwand rasch durch die Tür mit der Aufschrift
Abort für Herren.
     
    Bob Prinz kam auf den Bahnsteig und nahm den ihm zugewiesenen Platz ein, um auf den Zug zu warten. Er rückte noch einmal die schlichte blaue Uniformmütze zurecht, die ihn als Gepäckträger kenntlich machte und die ihn trotz ihrer Einfachheit stets aufs Neue mit Stolz erfüllte. Diese Mütze mit dem kleinen geflügelten Eisenbahnrad, das aus einem Stück Messingblech gestanzt war, mochte nicht viel darstellen. Aber für Bob bedeutete sie viel. Er verspürte einen ziehenden Schmerz im Rücken. Die Narben, die von ungezählten Peitschenhieben zurückgeblieben waren, machten ihm manchmal schlimm zu schaffen. Besonders dann, wenn er schwere Koffer heben musste, war ihm, als würde seine Haut in Flammen aufgehen. Doch er beklagte sich nicht. Die Schmerzen sorgten dafür, dass er nie vergaß, welcher Hölle er entronnen war. Und an jedem Tag, den Gott werden ließ, dankte er dem Allmächtigen dafür, dass er nun kein Sklave mehr war.
    Sorgfältig zog er den schmucklosen Rock zurecht. Er wollte ein gutes Bild abgeben, wenn die Reisenden aus dem Zug stiegen.
     
    Major Pfeyfer trat aus dem Vorraum, in dem sich die Schalter für den Billettverkauf befanden.
    Er warf einen Blick auf die große schwarze Tafel, auf der die Ankunftszeiten der Züge in sauberer Schrift mit Kreide vermerkt waren. Nachdem er festgestellt hatte, dass Rebekka Heinrich um zehn nach vier mit dem Zug aus Borussia eintreffen würde, ging er hinüber zu dem filigranen schmiedeeisernen Absperrgitter, dessen Tor den Ausgang des Bahnsteigs bildete. An diesem strategisch idealen Ort wollte er die Schuldirektorin abfangen. Hier konnte sie ihm nicht entgehen.
    Doch noch war es nicht so weit. Um sich die Zeit zu vertreiben, ließ er die Blicke umherschweifen und betrachtete die Halle, die mit ihren reich verzierten schmiedeeisernen Bögen gleich zwei Bahnsteige mit vier Gleisen überspannte. Der Aufwand, den die Karolinische Nordbahn mit diesem Gebäude getrieben hatte, war ihm völlig unverständlich und widerstrebte ihm zutiefst. Sein urpreußischer Sinn für Sparsamkeit konnte sich mit so viel Verschwendung nicht anfreunden. Wozu eine Halle von diesen Ausmaßen, dazu noch verglast wie der Kristallpalast in London? Verständnislos schüttelte Pfeyfer den Kopf.
     
    Healey hatte sich die Kleidung gerichtet und war bereit, nach verrichteter Notdurft die Abortkabine nun wieder zu verlassen. Doch als er die Tür entriegeln wollte, bewegte sich der Griff nur einen halben Zoll, ehe er sich verklemmte. Alles Drücken und Ziehen half nichts, der Mechanismus war blockiert.
    Es überraschte Healey nicht im Geringsten, dass gerade er Opfer eines derartig

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