Die Fahrt Zu Den Sternen
überströmte Acorna mit einer wahren Flut von komplexen Empfindungen, die sich unmöglich hätten in Worten ausdrücken lassen: inbrünstige Freude; tiefe Trauer um die Eltern, an die Acorna keinerlei Erinnerung mehr besaß; und ein rückhaltlos begeistertes, bedingungsloses Willkommen.
(Du bist sowohl linyarii als auch Liinyar, und du gehörst zu uns), beteuerte Neeva aus vollster Überzeugung. (Ich bin Neeva von den Renyilaaghe, Visedhaanye ferilii dieser Expedition, und du bist ‘Khornya von den Renyilaaghe, mein Schwesterkind. Deine Eltern waren Feriila und Vaanye von den Renyilaaghe; du hast Feriilas Augen.) Neevas Sippenerinnerungen ergossen sich in Acornas Bewußtsein: eine blaugrüne, grasbedeckte Welt mit weitläufigen, sanften Hügellandschaften und kristallklaren Wasserläufen. Ein hochgewachsener Mann mit Augen so tiefsilbern wie schattiges Gras, der lächelte und einen vergnügt lachenden Säugling in die Luft warf; eine Frau mit lieblichem Gesicht, deren silberfarbene Augen das Spiegelbild von Acornas eigener Iristönung waren; fröhliche Festtage voller Blumen und Gesang; kleine pelzige Tiere, die in den Bäumen zwitscherten…)
»Mein Traum!« rief Acorna laut aus.
Verwirrt rückte Neeva ein klein wenig von Acorna ab, ließ ihre Hände aber weiterhin liebevoll auf den Schultern ihres Schwesterkindes ruhen. »Dein… Traum?« fragte sie in leicht nasalem Basic.
Es war stets einer ihrer liebsten Träume gewesen, der Acorna immer wieder einmal überkam, in jenen unwirklichen Augenblicken zwischen Schlafen und Wachen. Manchmal hatte sie ihn monatelang nicht geträumt, manchmal aber auch gleich zwei- oder dreimal in einer einzigen Woche. Er zählte zu ihren allerfrühesten bewußten Erinnerungen und mußte sie sogar davor schon sehr beschäftigt haben. Denn Gill und Rafik hatten ihr erzählt, daß sie, kaum daß sie ihre ersten paar Brocken Basic erlernt hatte, zuweilen aufgewacht sei, von einem seltsam gefärbten Himmel erzählt habe und wütend den Namen eines Tieres von ihnen habe wissen wollen, von dem sie noch nie zuvor gehört hatten.
Stockend beschrieb Acorna Neeva die Bruchstücke, die ihr von einem Traum in Erinnerung geblieben waren, der sie jedesmal mit dem wohligen Gefühl erfüllt hatte, umsorgt und geliebt zu werden. »Da war ein Garten, voll mit herrlich weichem und beinahe blauem Gras, und jemand hat mich hochgehalten, damit ich die singenden Flaumwesen in den Bäumen sehen konnte…«
»Kein Traum«, widersprach Neeva, und die silberfarbenen Pupillen ihrer Augen verengten sich zu senkrechten Schlitzen.
»Das war ein Garten im Klanhaus der Renyilaaghe. Dein Vater Vaanye hat dich immer dorthin mitgenommen, um dir die Thiliiri in den Bäumen dort zu zeigen. Er sagte immer, daß du wie ein Thiilir singen würdest, statt zu schreien wie ein gewöhnlicher Säugling. Und Feriila und ich haben immer ein Schwätzchen gehalten, während Vaanye mit dir gespielt hat…
Kannst du dich nicht erinnern?«
Acorna schüttelte den Kopf und spürte, wie sich jetzt ihre Pupillen zusammenzogen, so wie zuvor die von Neeva.
»Macht nichts, macht nichts.« Zärtlich strich Neeva einen flüchtigen Augenblick lang mit ihrem Horn über das von Acorna, eine Geste von unendlich trostspendender Wirkung.
»Du bist ein Teil von uns, unsere Erinnerungen sind deine Erinnerungen, und bald wirst du sie alle genauso mit uns teilen können, wie wir es tun.« Als unterschwelligen, stummen Unterton dieser gesprochenen Worte konnte Acorna einen Aufschrei voller Kummer und Mitleid spüren: (Wie hast du es nur geschafft, so zu überleben, mutterseelenallein?) (Ich war NICHT allein) dachte sie und ließ nun ihre eigenen Erinnerungen an Gill und Rafik und Calum in Neevas Bewußtsein strömen.
(Ich verstehe), erwiderte Neeva in einem völlig veränderten Tonfall. (Wir hatten nicht damit gerechnet, daß es zu einer Bindung kommen könnte…)
»Keine Bindung, nicht so«, begehrte Acorna auf, da das in Neevas Gedankenbild von einer Bindung mitschwingende Verständnis eine körperliche, sinnliche Beziehung unterstellte.
(Sie haben mich gefüttert, umsorgt und großgezogen, sich dabei abgewechselt…) Nun legte sie ihrerseits ihr Horn an das ihrer Tante und überschüttete sie mit einer Myriade Erinnerungsbilder an Szenen, wie sie als kleines Kind in einem schmalen Waschbecken gebadet worden war, wie sie sämtliche Pflanzen in der Hydroponik der Reihe nach durchprobiert hatte, wie sie ein »Nein« hinzunehmen gelernt hatte
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