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Die Falken Gottes

Die Falken Gottes

Titel: Die Falken Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wilcke
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die Zeit und Ruhe gehabt, sich eingehend damit zu beschäftigen, doch statt dessen saß sie nur untätig herum und lauschte dem kratzenden Geräusch, das Ohlins Feder auf dem Papier hinterließ.
    Sie betrachtete ihn und fragte sich, ob sie ihm noch immer böse sein sollte. Sein Kuß hatte sie wütend gemacht. Gerade erst hatte sie sich einzureden versucht, daß Ohlin nicht der selbstverliebte Parvenu war, als der er sich so gerne aufspielte. Sie hatte nicht gelogen, als sie ihm gesagt hatte, daß sie ihm am liebsten in die Arme gefallen wäre, als er rechtzeitig aufgetaucht war und sie aus der Gewalt des Schiefnasigen befreit hatte. Ohlin konnte charmant sein. Außerdem hatten ihn die Worte über den Verlust seiner Kinder ihr näher gebracht.
    Der Kuß im Stall schien dieses Vertrauen jedoch zu widerlegen und bestätigte die Befürchtung, die Lucia Monsbach ihr mit auf den Weg gegeben hatte. Ohlin war aus keinem |176| besseren Holz geschnitzt als Seybert. Immerhin hatte ihn ihre Zurechtweisung beschämt. Und als wolle er seinen Fehler wiedergutmachen, hatte er auf dem Rückweg zum Kolleg sogar zugestimmt, den Dom aufzusuchen, von dessen prachtvoller Halle Anneke durchaus beeindruckt war. Ohlin hatte sie durch die Seitenschiffe zu einer reichverzierten astronomischen Uhr geführt, die sich hoch wie ein Haus erstreckte und mit zahlreichen geschnitzten Figurengruppen, Symbolen und Kalendarien geschmückt war. Ohlin hatte ihr erklärt, daß mit den astronomischen Angaben dieses Uhrwerks die Daten der christlichen Feste viele hundert Jahre exakt vorausberechnet werden konnten. Anneke hatte kaum den Blick von dieser wundersamen Gerätschaft lösen können. Erst nach einer Weile hatten sie sich in eine der Bankreihen gekniet, und Anneke hatte zu Gott gebetet, daß er sie in dieser Stadt vor Männern wie dem Schiefnasigen behüten möge – und in den Nächten auch vor Magnus Ohlin.
    Der Gang durch die Stadt und der Aufenthalt im Dom hatte Anneke abgelenkt, doch hier im Kolleg langweilte sie sich. Sie schaute wieder zu Ohlin, der ein vernehmliches Seufzen von sich gab. Augenscheinlich kam er mit seinen Bemühungen kaum voran, die Zahlenreihen zu entschlüsseln.
    Anneke erhob sich und trat auf ihn zu.
    »Eure Spielereien scheinen nicht von Erfolg gekrönt«, meinte sie.
    Ohlin schaute zu ihr auf und runzelte die Stirn. »Spielereien? Du glaubst, ich verschwende meine Zeit mit Spielereien? Anneke, solch eine Verschlüsselung ist die Alchemie der Sprache, und der Kampf, sinnvolle Worte aus diesen scheinbar zusammenhanglosen Zahlenreihen hervorzubringen, ist eine sehr alte Wissenschaft.«
    Er wirkte regelrecht aufgebracht. Dieses für sie unverständliche |177| Spiel mit Zahlen und Buchstaben kam für ihn anscheinend einer regelrechten Passion gleich. Neugierig geworden, beugte sie sich über das Papier und die Notizen, die er gemacht hatte.
    »Erklärt es mir«, sagte sie.
    »Wie bitte?«
    »Ich will es verstehen. Erläutert mir, was Ihr hier tut. Wie entsteht aus diesen Zahlenreihen ein lesbarer Text?«
    Ohlin gab ein abfälliges Zischen von sich. »Das wäre zu kompliziert für dich. Eine Magd wie du würde diese Vorgänge nicht begreifen.«
    Damit wollte Anneke sich nicht zufriedengeben. »Versucht es zumindest«, meinte sie. »Ich merke Euch an, daß Ihr gerne über diese Dinge sprecht, also ist es doch egal, ob ich das alles verstehe.«
    Er überlegte, und bevor er eine Antwort geben konnte, sagte Anneke: »Außerdem habt Ihr etwas gutzumachen.«
    »Der Kuß?« Er lachte und zwinkerte ihr zu. »Den solltest du besser nicht zu ernst nehmen, Anneke, aber bevor du dich wieder schmollend auf deine Decken verkriechst, will ich versuchen, dich sanfter zu stimmen. Hol dir einen Schemel und setz dich zu mir.«
    Anneke griff nach dem Hocker und ließ sich neben ihm nieder.
    Ohlin deutete auf die säuberlich niedergeschriebenen Zahlenreihen. »Was du hier siehst, ist das Ergebnis des jahrhundertealten unablässigen Kampfes zwischen Verschlüßlern und Entschlüßlern. Beide Seiten bedienen sich der Mathematik und der Linguistik, also den Lehren der Zahlen und der Sprache. Während eine Partei um Geheimhaltung bemüht ist, setzt die andere alles daran, dies zu verhindern. Die Stärke solcher Verschlüsselungen kann Kriege entscheiden und die Schicksale ganzer Völker beeinflussen.«
    Anneke fiel es schwer zu verstehen, warum sich jemand |178| die Mühe machte, eine Nachricht in Zahlen zu zerlegen, die scheinbar keinen Sinn erkennen

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