Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Falken Gottes

Die Falken Gottes

Titel: Die Falken Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wilcke
Vom Netzwerk:
mit Karls Leiche zu tun? Diese schlimme Befürchtung trat auch prompt ein, als Seybert auf das Stalltor deutete und sagte: »Du wirst einen Eimer Wasser und ein Tuch herbeischaffen und dem Toten das Blut abwaschen.«
    Anneke verzog das Gesicht. Die Vorstellung, den zertrümmerten Schädel des Kutschers berühren zu müssen, verursachte ihr ein Grausen. »Das werde ich nicht tun«, sagte sie.
    Seybert quittierte ihre Weigerung mit einer schmerzhaften Ohrfeige. »Herr Ohlin hat uns aufgetragen, die schlimmsten Spuren dieser Gewalttat aus dem Gesicht seines Kutschers zu entfernen, bevor er die Leiche abholen läßt.«
    »Er wollte gewiß nicht, daß ich diese Aufgabe erledigen muß«, meinte Anneke.
    »Aber
ich
will, daß du dich darum kümmerst.« Er holte zu einem weiteren Schlag aus, doch Anneke wich zurück und befolgte mit einem wütenden Schnauben seine Anweisung.
    |272| Sie pumpte Wasser in einen Eimer, nahm ein Wolltuch zur Hand und trat in den Stall, wo die Leiche neben dem Kuhgatter auf dem Boden lag. Eine Decke aus Sackleinen war über den Körper ausgebreitet worden. Anneke schauderte bei dem Gedanken, das Tuch zur Seite zu ziehen.
    Plötzlich machte sie im matten Licht eine Bewegung aus. Jemand duckte sich hinter einer der Kühe. Anneke blinzelte, doch dann erkannte sie, wer sich da vor ihr versteckte.
    »Komm hervor«, rief sie. »Ich habe dich gesehen.«
    Wendel erhob sich langsam und blickte ihr mürrisch ins Gesicht. In seinen Händen hielt er ein Paar Stulpenstiefel.
    Ohlin hatte vor seiner Abreise davon gesprochen, daß die Stiefel von Kjell Ekholm gestohlen worden waren. Und dieser Dieb stand nun vor ihr.
    Sie stellte den Eimer ab und machte einen Schritt auf Wendel zu. »Die Stiefel gehören dir nicht«, sagte sie.
    Der Knecht hob nur die Schultern und nahm ihre Bemerkung gleichgültig hin. »Und wenn schon! Meine Füße passen hinein, also nehme ich sie mir.«
    »Gib sie her!« verlangte Anneke.
    Wendel wich trotzig zurück. »Nein.«
    »Sei nicht dumm! Seybert wird dich prügeln, wenn er erfährt, daß du die Stiefel an dich genommen hast.«
    »Du mußt es ihm ja nicht verraten.«
    Anneke wollte dieser lächerlichen Situation ein Ende setzen und langte nach dem Schuhwerk. Sie bekam eine der Stulpen zu fassen und riß den Stiefel an sich, doch so leicht gab Wendel nicht nach. Beide zogen und zerrten, dann glitt Annekes Hand von dem Leder ab. Wendel stolperte auf die Stallwand zu und schlug ungeschickterweise mit dem Schuhwerk gegen einen Holzpfeiler. Als er zum Stehen kam und einen Blick auf den Stiefel warf, blaffte er Anneke an: »Du törichtes Weibsstück! Sieh nur, was du angerichtet hast. Nun ist er kaputt.«
    |273| »Zeig her«, sagte Anneke und betrachtete den beschädigten Absatz. Seltsam, das Holz war an einer glatten Kante abgesprungen, so als wäre der Absatz nicht gebrochen, sondern nur verschoben. Zudem schien er hohl zu sein.
    Ein Versteck.
    Anneke steckte zwei Finger in den Hohlraum des Absatzes und ertastete ein Papier. Sie holte einen schmalen Zettel hervor und faltete ihn auseinander. Einige Augenblicke schaute sie unschlüssig auf die Buchstaben und Zahlen, dann stockte ihr der Atem, als ihr klar wurde, was sie gefunden hatte.
    »Hurenfurz und Ziegendreck!« entfuhr es ihr.
    »Fluch nicht vor dem Toten«, schalt Wendel sie, doch Anneke ignorierte ihn und lief aus der Scheune. Sie eilte in die Schenke und zog sich in ihre Kammer zurück, wo sie ungestört war.
    Ohlins Abschrift der verschlüsselten Nachricht, die er in Ekholms Mantel gefunden hatte, steckte noch immer in ihrem Schuh. Sie zog das Papier hervor und nahm aus ihrem Versteck unter dem Bretterboden einen Kohlestift zur Hand. Dann legte sie beide Zettel nebeneinander auf das Bett und betrachtete das Papier, von dem sie glaubte, daß es der Schlüssel für die chiffrierte Nachricht sein konnte. Auf dem Zettel waren alle Buchstaben des Alphabets notiert worden. Unter jedem dieser Buchstaben befanden sich unterschiedlich viele Ziffern – genauso wie Ohlin es ihr in Münster erläutert hatte. Alles, was sie nun noch tun mußte, war, den Zahlen auf der Abschrift die Buchstaben zuzuordnen, die sie aus den Reihen des Codeschlüssels ablesen konnte.
    Annekes Hand zitterte und verkrampfte, während sie sich zwang, die Buchstaben trotz ihrer Aufregung und der mangelnden Übung so lesbar wie möglich niederzuschreiben. Nachdem sie etwa ein Viertel der Zahlenreihen entschlüsselt |274| und auf das Papier gekritzelt hatte,

Weitere Kostenlose Bücher