Die Fallen von Ibex
lasse ich da nur auf die Welt los? Dann nahm sie einen weiteren Schluck Cha. Er war jetzt beinahe kalt, aber sein vage bitterer Geschmack war rein und erfrischend.
Shadith und Linfyar sangen jetzt im Duett - ein ziemlich schmutziges Lied über die außerordentlich unwahrscheinlichen Abenteuer und Mißgeschicke eines lebenslustigen Hermaphroditen.
Harskaris Augen öffneten sich; das einst so strahlende Bernsteingelb war beunruhigend schwach geworden. Ihre Stimme wehte wie aus großer Ferne heran, ein tonloser Hauch, als sei sie nur teilweise hier, als kämpfe sie gegen diese Ferne an und könne nur für kurze Zeit verweilen. „Sieht so aus, als würden sehr viele ihrer Lieder von den Mutanten handeln”, sagte sie.
Aleytys nickte. „Ja. Besonders die weniger ehrbaren.”
„Zweifellos entsetzen und faszinieren die Mutanten sie gleichermaßen. Eine Flucht aus ihrer starren Klassenstruktur, aber eine schreckliche.”
„Starre Klassenstruktur?” Aleytys war nicht sehr an solcherlei Spekulationen interessiert, da sie sich damit bereits herumgeschlagen hatte, aber sie war Harskaris wegen beunruhigt, und so ermunterte sie sie, weiterzusprechen.
„Ihre anderen Lieder sind den Tragödien von Liebenden gewidmet, großen Leidenschaften unter einem schlechten Stern. Eine Kradj-Tochter und der Sohn eines Herrschers. Jedesmal ein rührseliges Ende. Anzunehmen, daß der Junge für die wenigen Oberen gesungen hat. So können sie sich edel fühlen in ihrem Mitleid - und sicher in ihrem Herrschertum.”
Aleytys nippte an dem Cha. Harskaris Phantomgesicht sah nicht gut aus, wahrhaftig nicht, obgleich es doch nur eine Illusion war, Abbild ihrer eigenen Phantasie; dementsprechend war also auch die Anspannung, die sie in diesem Gesicht zu erkennen glaubte, etwas Absurdes. Trotzdem… Je länger sie darüber nachdachte, desto nervöser wurde sie. Konnte es nicht sein, daß ihr Gehirn gewisse unterschwellige Hinweise interpretierte und ihr das Ergebnis in Form eines - nun - aktualisierten Abbildes darbot? „Du bist ziemlich bitter, heute abend”, sagte sie.
Harskari stieß einen vagen, leisen Laut aus, in dem komprimiert Ungeduld, Verstimmtheit, Erschöpfung und allgemeines Unwohlsein mitschwang. „Zu oft”, sagte sie. „Ich habe sie zu oft erlebt, zu oft gesehen, diese statischen Gesellschaftsgebilde. Und ich habe gesehen, wie sie unter dem selbsterzeugten Druck hochgegangen sind… habe die Gemetzel gesehen…”
„Du glaubst, die Städte am Fluß stehen kurz vor dieser Explosion?”
Ein weiterer Laut, fast so, als würden Zähne zusammengebissen werden. „Das habe ich nicht behauptet. Ich weiß nicht genug, um solche Vorhersagen zu machen.”
„Aber…” Aleytys brach ab, als sich die Bernsteinaugen schlossen. Auf mehr als nur eine Weise am Ende aller Kräfte, glaubte sie plötzlich zu wissen. Sie schluckte den Tee; die behagliche Stimmung war verflogen. Was soll ich mit dem Kind machen? überlegte sie, zu verwirrt über Harskaris Schroffheit, um überhaupt dar
über nachzudenken. Shadith brachte dem Jungen gerade ein lebhaftes, übermütiges Pfeiflied bei. Aleytys’ Augen verengten sich, als sie bemerkte, wie Wakille Shadith und Linfyar anstarrte. Das ist der Glitzerblick eines Handlungsreisenden, wenn ich je einen gesehen habe. Ihre Muskeln spannten sich. Sie hatte mehr als einen von diesen Burschen kennengelernt, seit jenen Tagen auf Helvetia, und jeder von ihnen hatte diesen Blick gehabt, dieses gierige Strahlen in den Augen. Zu welcher Spezies sie auch gehörten, das Glitzern war stets dasselbe gewesen. Verdammt, sagte sie sich. Sie legte den Kopf zurück an den knorrigen Stamm und schloß die Augen. Es war eine Art Lösung; nicht unbedingt das schlechteste Leben.
Bestimmt würde er den Jungen bei bester Gesundheit halten. Aber es gelang ihr nicht, sich damit wirklich zu überzeugen. Der Junge war davongelaufen, weil er dem Messer hatte entgehen wollen.
Ohne Augen. Er hatte sich ihrem Schutz anvertraut. So ein winziges Kerlchen. Wenn seine Überlebenschancen hier bereits minimal waren, wie würden sie dann in einer hochtechnisierten, dichtbevölkerten Welt sein? Was, wenn seine neuen Herren beschlossen, dieselbe Maßnahme zu ergreifen, um diese seine Stimme zu bewahren? Wie sollte er vor ihnen davonlaufen?
Sie öffnete die Augen wieder und betrachtete das Trio am Feuer.
Der Junge schwatzte mit Wakille, neckte ihn, flirtete mit ihm.
Anders war das neckende Plaudern und Kichern, das Flattern seiner
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