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Die Fallen von Ibex

Die Fallen von Ibex

Titel: Die Fallen von Ibex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Clayton
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so alt, wie diese Straße tatsächlich war, und um so erschöpfter, da ihr Vorhandensein Zeichen dafür war, daß sie ihr Tagewerk beinahe vollbracht hatte. Es fiel schwer, weiterhin in Bewegung zu bleiben.
    Sie umrundete einen glitzernd weißen Spalt - das Erdreich war verschoben, wulstig nach unten weggesackt oder weggerissen worden (vor nicht allzu langer Zeit) - und trat gegen einen bleichen, runden Gegenstand, der mit einem Klappern davonrollte. Mit einiger Überraschung sah sie, daß es ein Schädel war - nach Größe und Form zu urteilen, humanoid. Sie blinzelte das Ding einen Moment lang an und wandte sich um; starrte auf die entblößte Erde. Nicht einmal Gras wuchs auf der steilen Böschung; lediglich ein weißlichgrüner Wurzelflaum tastete sich dort voran. Gegen Ende des Sommers hätte das Gras normalerweise den Großteil der Böschung in Besitz genommen haben müssen, gerade so, wie es das Steppenland vereinnahmt und verloren und wieder vereinnahmt hatte im Lauf der Jahreszeiten. Sie ging darauf zu.
    Ein eigenartiges Gemisch, diese frisch entblößte Erde. Grasbüschel waren zu unregelmäßigen, schillernden Klumpen zerschmolzen, rotbraune Korrosionslinien, zwischen den Grasbüscheln und ringsumher, bildeten ein irrwitziges Muster - Metallteile, Knochenreste, am deutlichsten erkennbar Zähne und die Kugelgelenke von Oberschenkelknochen. Der Mutterboden war zu einer harten, alkalischen Masse verklumpt, ein gelbliches Weiß, spröde, bleicher noch als die Blässe der Knochen. Plastikteile dazwischen, die nicht einmal von Jahrhunderten hatten entfernt werden können. Stoffetzen, die, im Boden eingeschlossen, Ewigkeiten überdauert hatten und jetzt im Wind flatterten und an Knochen und Plastiksplittern scheuerten. Überwiegend Knochen. Humanoide Schädel, Tierschädel, groß und klein, Fragmente von Kiefern und Zähne und Schläfenknochen, Rippenbögen, ein Fingerknochen, der aus dem Innern einer Augenhöhle heraus auf sie zeigte. Sie ging auf Erdreich, auf Land, das aus dem Fleisch von Menschen und Tieren bestand, schichtweise durchzogen war von zerschmetterten und geschmolzenen Knochen.
    Sie fröstelte und wandte sich ab, und plötzlich war s|e überwältigt von der Tragödie, die sich hier abgespielt haben mußte, von dem Wissen um die vielen Toten, und sie war froh, den Straßenbelag zwischen sich und deren Überreste zu wissen. Hana hatte ihr von den Kriegen erzählt, aber sie hatte nichts von dem verstanden, was sie bedeuteten. Sie, Aleytys, hatte ihr dies halb unbewußt vorgeworfen; sie war der Meinung gewesen, sie selbst könne den Schmerz dessen, was hier geschehen war, begreifen, aber jetzt wußte sie, daß sie genauso wenig begriffen hatte wie Hana. Die Realität des Todes hier überstieg selbst das Verständnis derjenigen, die mit dieser Realität lebten. Sie ging auf Toten; Schicht für Schicht lagen sie unter der dünnen Gras- und Bodenschicht, zahllos und namenlos von diesem Gras bedeckt, von äonenlangem Sonnenlicht gebleicht, ihre Gifte durch Jahrhunderte des Regens fortgewaschen … diese Toten, diese uralten Toten… lebende Wesen, die sinnlos und viel zu früh hatten sterben müssen.
    Der Wind raunte im Gras, raschelte durch wuchernde Gestrüppe. Ein kleines, braunes Nagetier (aus einer stumpfen, schwarzen Schnauze ragten scharfe Vorderzähne), hockte aufrecht auf einem Hügelkamm; in den Vorderpfoten hielt es einen Schuttbrocken.
    Sonnenlicht fiel darauf, warf ein blendendes Glitzern. Das Tier preßte seine Beute an das rötliche Fell seiner Brust und betrachtete Aleytys ernst. Sie setzte sich in Bewegung, ging auf das Tier zu.
    Mit einem heftigen Rucken des buschigen Schweifs verschwand es jenseits der Hügelkuppe. Aleytys lächelte, und ihre finstere Stimmung hellte sich auf. Sie kehrte auf die Straße zurück und ging weiter, müde, mit wunden Füßen, aber irgendwie zufriedener als zuvor. Langsam, aber stetig näherte sie sich der untergehenden Sonne.
    Vor ihr krümmte sich die Straße in einem weiten Bogen um mehrere Hügelflanken. Darüber wuchs eine Mauerkrone auf, ein heller, flacher Strich gegen den Himmel. Je näher sie kam, desto deutlicher wurde das dunkle Grün von Baumgeäst, das sich über einen kleinen Bach wölbte; ihn konnte sie nicht sehen, aber sie wußte, daß er da war. Er war auf der Karte verzeichnet. Neustadt-Ruinen, dachte sie und zuckte zusammen, als sich der Himmel vor ihr plötzlich verdunkelte; lautes Flügelschlagen zog ihre Aufmerksamkeit an - kleine

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