Die Fallen von Ibex
Vögel, unterwegs zu ihren Nestern, da die Nacht nahte.
Sie schritt wieder zügiger aus, umrundete die Hügel. Und jetzt zog sich die Straße kerzengerade dahin, und sie ging in den grellen Glanz des Sonnenuntergangs hinein; die Neustadt-Ruinen erhoben sich als schwarze Silhouetten vor dem karmesinroten Himmel. In diesen Momenten, da sie sich der Stadt näherte, erschien sie ihr wie eine von Kinderhänden in Modellierton geformte Wiedergabe der dunklen, massiven Enklave; ein flüchtiger Gedanke, sofort wieder verbannt, als sie nahe genug gekommen war, um die Mauer zu berühren und in den gähnenden Tordurchgang zu treten.
Das Tor selbst war aus massiven Bohlen gefertigt, blaubraun und grau gesprenkelt, von der Zeit und vom Regen fast in Stein verwandelt. Weißer Staub hatte sich in den Ecken und an den Bohlen festgesetzt, und abgesehen von ihren eigenen Fußabdrük-ken war dieser Staub unberührt - allein der Wind hatte kleine Wellen in seine Oberfläche geschliffen. Sie kehrte ins Freie zurück und ging an der Mauer entlang; mit einer Hand strich sie über die kühle Oberfläche.
Sie mußte nicht allzu weit gehen; bereits jenseits der nächsten Mauerkrümmung, nur wenige Schritte vom Tor entfernt, klaffte ein annähernd drei Meter großer Spalt, der sich zur Mauerkrone hin sogar noch verbreiterte. Sie stieg über gewaltige Trümmerstük-ke, berührte den Staub zerbröckelnder Ziegelsteine. Die Quadersteine der Mauer bestanden aus getrocknetem Alkalischlamm, hauptsächlich; vermutlich aber mit einer Substanz vermengt, welche die Ziegel wasserundurchdringlich hielt, solange die Glasur unversehrt blieb. Die zerborstenen Ziegel waren buchstäblich zerschmolzen, nur die durchsichtigen Hüllen hatten länger überdauert, bis schließlich auch sie von Wind und Wetter besiegt und weithin verstreut worden waren. Aleytys brachte den Mauerspalt hinter sich; der Wall selbst war annähernd drei Meter (und gut doppelt so viele Schritte) dick. Sandverwehungen erhoben sich, die Scherben der Ziegelglasuren waren allgegenwärtig und glitzerten rot aus den Schatten, sooft das ersterbende Sonnenlicht darauf fiel. Die Gebäude innerhalb der Mauer wirkten wie ein sinnverwirrendes Labyrinth; sie waren ineinander verschachtelt, zum Teil in sich zusammengebrochen und ohne Dächer; eine monströse Ansammlung von Mauern, die mehr und mehr zerschmolzen, um sich mit dem an den Wällen emporkriechenden Sandhaufen zu vereinen, gerade so, wie Zeit, Menschen, Tiere, Vögel die Unversehrtheit der Ziegelsteinschalen beeinträchtigten. Aleytys hielt sich dicht an der Innenseite der großen Mauer und kehrte zum Tor zurück. Wenn überhapt, so mußte dort Esgards Zeichen zu finden sein; immer vorausgesetzt, er war tatsächlich bis hierher gekommen - und immer vorausgesetzt, er hatte eines hinterlassen.
Von innen machte das Haupttor genau denselben Eindruck wie von außen; Verwehungen aus mehlartigem Staub lehnten sich dagegen; nur, daß es hier keine Windwellen gab, sondern ein pockennarbiges Gewirr - hoch oben waren winzige Rinnen in die Mauerschrägen gefressen; Wasser tropfte daraus herunter, sammelte sich zu Rinnsalen, die über einen breiten, niedrigen Mauerbogen krochen und so ganz in die Nähe des Tores kamen. Ringsumher waren andere Wände längst zusammengebrochen. Die Frühlingsregen hatten Trümmerstücke und Schutt davongespült.
Moose gediehen, in tiefen Spalten sammelte sich Morast. Sie wich einer weiteren Staubwehe aus, trat ganz nahe an die Innenseite des Tores heran und ließ die Fingerspitzen über die frische Markierung gleiten, die in das uralte, steinharte Holz gemeißelt war - KE.
Unvermittelt gaben ihre Beine nach, und sie ließ sich einfach nieder, und der Staub puffte in zerfließenden kleinen Wolken hoch und rieselte auf sie herunter. Aleytys zog die Knie an, beugte sich vor, barg den Kopf auf ihren Armen. Für lange Sekunden wollte sie nur hier, in diesem langsam niedergehenden bleichen Nebel sitzen; sie wollte nicht denken, und sie wollte sich nicht bewegen. Dann hob sie den Kopf wieder und starrte erneut auf das Zeichen, erstaunt über die heftige Reaktion. „Ich versteh’ das nicht”, murmelte sie. Ihre Stimme war rauh. „Das ist zu hoch. Es ist ein Spiel, oder? Warum… Was passiert?” Sie massierte mit zitternden Händen über ihre Schenkel. Zwang, dachte sie. Das bin nicht mehr ich… nein, ist nicht mehr meine Suche, meine Entscheidung, ich hab’ mich noch nie so gefühlt, noch nie… Ich habe nicht
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