Die Fallen von Ibex
Härchen ringelten sich, der Disziplin der Zöpfe entgangen, rings um ihr Gesicht, fingen das trübe Licht der untergehenden Sonne ein und leuchteten wie geschmolzenes Gold; eine Art Heiligenschein. Ihre Augen waren von einem so dunklen Braun, daß sie nahezu schwarz wirkten. Die äußeren Augenwinkel verliefen schräg nach unten, was ihr ein zugleich seltsames und tiefernstes Aussehen verlieh. Auf die linke Wange war mit leuchtenden Farben ein Falkenkopf gemalt. Die Lederjacke, die sie trug, war in einer Imitation von Falkenfedern gefärbt; eine Arbeit, die mit derselben Detailfreude ausgeführt war wie das Kopfbildnis.
Je weiter sie sich von dem Ort des Hinterhalts entfernten, desto ruhiger und gefaßter wurde ihr Gesicht, bis es schließlich fast ohne Ausdruck war. Allein die ruhelose Bewegung der dunklen Augen zeigte das Vorhandensein von Leben, das sich mehr und mehr in den Körper einfügte. Eine Stunde lang ritten sie schweigend Seite an Seite. Shadith konzentrierte sich ganz auf die doppelte Aufgabe
-ihr Gleichgewicht sowohlin dem neuen Körper als auch auf dem Gyr zu halten.
Aleytys beobachtete sie besorgt und jederzeit bereit, sie in einem weichen Netzwerk aus purer Energie aufzufangen, falls sie taumeln sollte. Doch schon bald wurde offensichtlich, daß das nicht mehr nötig war. Langsam aber beständig wurden ihre Bewegungen sicherer , und das Gesicht erhellte sich passend zu den Augen zum Leben. Shadith begann Gefallen zu finden an ihrem neuen Körper.
Aleytys konnte den Duft dieser Freude schmecken, ein beständiges Pulsieren, das sich aus ihr heraus ergoß.
Sie war vollauf damit beschäftigt, Shadith im Auge zu behalten und nach hinten zu sichern, doch nur zu bald wurde ihr bewußt, daß sie ein weiteres Problem hatten. Harskari. Die bernsteinfarbenen Augen flackerten in den Tiefen ihres Verstandes. Harskari war da und doch nicht da, wartete, um helfen zu können, falls Shadiths Körper versuchen sollte, den neuen Bewohner abzustoßen, und kämpfte zugleich gegen eine verzweifelte neue Einsamkeit an, eine Einsamkeit, die siedete und überkochte und auch Aleytys überflutete. Aleytys wußte wenig von dem, was die Zauberin durchgemacht hatte in den ersten Jahrhunderten ihrer Gefangenschaft in der Falle des Diadems - allein und bei vollem Bewußtsein gebannt, ohne Augen sehend, ohne Ohren hörend und alles wissend. Jahrhunderte des Wahnsinns, des Zorns und der Verzweiflung, bis sich die alten Disziplinen ihrer Bildung wieder festigten und sie den Wahnsinn überwand, bis es - langsam - möglich war, die Erinnerungen zu sammeln und zu einem neuen Zielbewußtsein zu gelangen … und bis es gelang, die klaustrophobischen Gegebenheiten ihres Daseins auszuweiten. Eine umherziehende Poetin und Sängerin hatte das Diadem schließlich in den Ruinen einer alten Welt gefunden. Shadith. Und so war Harskari eine Gefährtin zuteil geworden, die das Gefängnis mit ihr teilte.
Für die Dauer einer kurzen Lebensspanne zogen sie von einer Welt zur anderen, da Shadith wenig Interesse hatte an heimatlicher Verwurzelung oder Familie, wobei sie stets ihre Jagd nach neuen Liedern und Geschichten als Ausrede für dieses Umherzigeunern benutzte. Viele ihrer Funde waren nur zweitrangiger Natur, doch das Umherziehen war ihr ein Bedürfnis. Sie war ruhelos, schnell gelangweilt durch alles Vertraute. Sie stahl, wenn das unumgänglich war, und sie arbeitete, und immer war das Ziel ein neuer Ort, eine neues Volk, aus dem sie schöpfen konnte. Etwas hiervon kannte Aleytys aus eigener Erfahrung… Die Jahre auf Universität, ihre Schwierigkeiten, mit den anderen zurechtzukommen, arrogant und schüchtern und manipulierend, wie sie war und nicht sein wollte, und wie sie sich schließlich von allen zurückgezogen hatte.
Jetzt war Harskari wieder allein, allein gefangen, und sie war sich dessen sehr bewußt. Ganz gleich, wie sehr sie ihre Gefühle auch für sich behielt, sie hatte keine Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten, so abrupt ihrer letzten Gefährtin beraubt zu werden.
Einsamkeit, Angst, Neid, Scham und Bedauern strahlten von ihr aus, und Aleytys spürte es wie Nadelstiche. Spürte es und war selbst verwirrt von diesem chaotischen Wirbel und verwirrt von der eigenen Unfähigkeit, Harskari trösten, oder mit ihr auch nur über all diese Dinge sprechen zu können. Trotz ihrer innigen Beziehung hielt sich Harskari äußerst zurückgezogen. Es gab Augenblicke, da sie sich entspannte und von ihrer Welt erzählte, und von dem
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