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Die Fallen von Ibex

Die Fallen von Ibex

Titel: Die Fallen von Ibex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Clayton
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an den Baum, und ihr war zum Heulen zumute. Aleytys hatte diese Erkenntnis bisher allein durch ihre Gegenwart von ihr ferngehalten, denn sie und Harskari waren für sie so etwas wie Verwandtschaft … Jetzt kam die Reaktion ihres Körpers, ein hartes Zusammenziehen von Muskeln, von allem, ein Zucken, ein Ruck, der ihren Griff lockerte und sie beinahe vom Baum fallen ließ. Ihre Verwandten, ihr ganzes Volk, waren tot und vergangen, tot und vergangen im Strudel der Jahrtausende, die sie unvollständig in der Falle des Diadems geruht hatte, zusammen mit den anderen darin gefangenen Geistern, mit denen sie schließlich einen Bewußtseinskern ausgebildet hatte und die Fähigkeit, sich über die engen Grenzen hinaus auszudehnen, um das Leben der Vergänglichen mitzuerleben, die sich rings um den Verwahrungsort des Diadems einfanden - die einzige Beschäftigung, das einzige, das sie bei Verstand hielt. Sie hatte ihr Leben gemessen an den Lebensspannen, an denen sie Anteil hatte; sie hatte die Familien der Erwählten beobachtet, hatte gesehen, wie sie sich entwickelten, wie Kinder zu Erwachsenen heranwuchsen, sich paarten, alterten, starben, und sie hatte mit ihnen gelitten und während alledem in schmerzhafter Verzweiflung an sich selbst festgehalten, um jene Erinnerungen und Talente und Gefühle und Reaktionen nicht zu verlieren, die die Summe ihrer Persönlichkeit bildeten, ihr Ich-Gefühl. Sie hatte dieses Ich kodifiziert, hatte es in all diesen Jahrhunderten starr und unverändert gehalten, weil sie fürchtete -nein, mehr noch, weil sie schreckliche Angst davor hatte, alles zu verlieren, alles zu vergessen, wenn sie auch nur den winzigsten Teil losließ. Weil sie Angst davor hatte, nicht mehr Shadith zu sein, sondern nur mehr ein namenloses Gespenst, das nicht einmal Aussicht auf die Gnade des Todes hatte, auf die Gnade, von dieser sinnlosen Existenz erlöst zu werden.
    Und dann war Aleytys gekommen.
    Sie hatte ihr ihren Körper zur Verfügung gestellt, immer wieder, hatte ihr ermöglicht, wieder sie selbst zu sein, ganz und gar sie selbst; ein wunderbares Gefühl. Zu singen, das physische Vergnügen schreibender, über Papier streichender Finger zu empfinden, tiefschwarze Tinte Seite um Seite bedecken zu sehen. Poesie war für sie stets ebensosehr physische wie psychische Wohltat gewesen. Das Gleiten der Feder auf elfenbeinfarbenem Papier. Die winzigen Rhytmen des Haltens, Weitermachens, der Interpunktion.
    Das Setzen der Akzente. Das Gefühl des Papiers unter dem Gleiten und Schieben ihrer Hand, selbst sein Geruch, sehr schwach, trocken, dazu der Geruch der Tinte, dunkel wie nach Moschus.
    Kaum merklich, jedoch vorhanden, um wahrgenommen und genossen zu werden, und wenn nicht vorhanden, so um dessen Fehlen zu bedauern. Die zackigen Ketten schwarzer Linien. Unbedeutende Dinge, jedoch von ihr so geschätzt, um so mehr, da sie ihr jetzt, nach dieser langen Zeit, wiedergegeben waren. Aleytys hatte einmal gelacht, als sie sich zurückgezogen hatte, hatte darüber gelacht, weil sie dieses besonders schöne Blatt Papier mit behutsamen Fingern liebkost, weil sie so hingebungsvoll daran geschnuppert hatte. Die Worte kamen wie von selbst, wenn sie sie von Hand zu Papier bringen konnte. Als sie keine Hände mehr gehabt hatte, war das vorbei gewesen, und sie hatte sehr darunter gelitten. Sie war damals in Aleytys’ Lachen eingefallen, und auch wenn sie dieses Lachen in ihrer Nische in den fest verwurzelten Kraftlinien des Diadems nicht wirklich hörte, so spürte sie es doch. Nach und nach hatte sie die eiserne Beherrschung gelockert, die sie sich selbst auferlegt hatte, bis sie schließlich zu ihren Liedern zurückgefunden hatte. Wie groß die Freude darüber gewesen war - und jener Frau gegenüber, die sie wieder sie selbst sein ließ, die ihr ein eigenes Dasein gestattete, wenn auch immer nur für kurze Zeiten. Harskari hatte nie darum gebeten, und einmal hatte sie einen entsprechenden Vorschlag Aleytys’ sogar abgelehnt. Shadith war von dieser Verweigerung schockiert gewesen; auf jene subtile, heimliche Art und Weise, die sie im Verlauf ihrer Jahrtausende währenden Gefangenschaft entwickelt hatten, hatte sie sie nach dem Warum gefragt.
    Doch Harskari erklärte ihre Handlungen selten, und niemals, wenn sie ihre ganz speziellen Stimmungen hatte. Auch damals hatte sie nicht geantwortet, was Shadith nur noch mehr erstaunt und entsetzt hatte.
    Sie drängte die Wehmut zurück, blickte den Zel (die in diesem Moment die

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