Die falsche Frau
Hundertachtzig.
»Fallanalyse? Diese Psychomasche zieht doch schon lange nicht mehr. Die Amerikaner setzten auf die Kompetenz von Pathologen und Gerichtsmedizinern. Psychologie ist doch längst eine Sache von Genetik und Neurologie geworden. Bald werden wir Gewalttätern nur über ein paar Milliliter CSF auf die Schliche kommen. Neuropeptide. Gehirnflüssigkeiten. Das sind die wahren Erinnerungsspeicher. Die liefern jedes Detail, jede Spur. So löst man heute Fälle.«
Vera hob den Kopf. »Was Sie nicht sagen? Das ist ja interessant, dann sollten wir den Artikel am besten zusammen schreiben.«
Tichat unterbrach.
»Viel zu kompliziert, meine Lieben! Wir sind eine Tageszeitung, kein Wissenschaftsmagazin, abgesehen davon, hab ich von der CSF-Methode noch nie gehört. Jetzt zu Vera. Schreiben Sie das. Reine Fakten, ja? Weder zu trocken noch zu märchenhaft. Hoffentlich haben Sie den Fall gut recherchiert.«
Vera nickte.
Niemand wagte etwas zu sagen. Nur das Kratzen von Tichats Fingernägeln auf der Tischplatte war zu hören.
»Im Namen der Rose«, sagte er schließlich.
Tichat und seine Headlines.
»Amen«, murmelte Vera leise.
Damit war die Sache geritzt.
»Siebzig Zeilen à fünfunddreißig Anschläge und ein hübsches Bild des Mordopfers. Ihr Artikel kommt auf die Titelseite«, sagte Tichat und machte eine seiner herablassenden Handbewegungen, die Aufforderung, dass sie die Sitzung nun verlassen konnte.
Vera ging an den zwei Wachhunden vorbei in ihr Zimmer. Während sie schrieb, fühlte sie, wie sich ihr Magen umdrehte. Sie hatte nicht zu Mittag gegessen, und es war ärgerlich, diese Geschichte zu schreiben, ohne sich näher mit operativer Fallanalyse zu beschäftigen oder Dr. Rosen zu befragen. Die war einfach zu populär und viel zu oft in den Medien. Plötzlich kam ihr ein ganz anderer Gedanke. Was, wenn François Irene Orlinger umgebracht hatte? Wusste die Polizei denn nichts von François?
Vera Kirchner starrte auf den Bildschirm ihres Computers.
Im Namen der Rose. Gequirlte Scheiße! Typisch Tichat.
So schnell sie konnte, hackte sie die Gräuelgeschichte in den Computer. Dann schaltete sie den Rechner aus.
Wer ist François Satek? Die Frage ließ sie nicht mehr los. Ein Verrückter, der es demnächst auch auf sie abgesehen hatte? Vera wählte die Nummer der Auskunft und ließ sich mit Satek in der Eichenstraße verbinden. Nur ein Anrufbeantworter sprang an. Am Apparat dieselbe Blechstimme, die sonst ihren Kater Ben verscheucht hatte. Der alte Satek, widerlich! Mit einem Toten wollte Vera nicht reden, also legte sie auf und machte, dass sie nach Hause kam.
Das Licht im Treppenhaus flackerte.
Vera lief in den ersten Stock, blieb keuchend vor seiner Tür stehen und lauschte.
Siebzehn, achtzehn, neunzehn.
Dann wurde es dunkel.
Sie würde jetzt anklopfen, nicht läuten.
François, würde sie sagen. François, was war mit dieser Frau?
Dann würde sie ihn wie zufällig berühren.
Zwanzig, einundzwanzig.
Und er würde ihr alles erklären.
Zweiundzwanzig.
Das Licht ging wieder an.
Vera klopfte. Nichts. Sie presste ihr Ohr an die Tür.
Wieder nichts.
Sie läutete.
Niemand zu Hause. Frustriert wandte sich Vera um und schloss ihre Wohnungstür auf. Im Schlafzimmer stand das Fenster offen. Natürlich, dieser Maler, dachte sie. Eingeschlossen, während sie nach der Nacht im Taxi bei Brit geduscht und gefrühstückt hatte.
Vera schlug sich an die Stirn und lachte. Wie hatte sie den nur vergessen können? Der Mann musste über die Feuerleiter geflüchtet sein.
12
O BWOHL P ATRIZIA H ERAL nicht zur Sitzung erschienen war und sie genug Zeit hatte, ließ Sarah Rosen den Kommissar warten. Sie wollte sich mit ihm im Da Pablo treffen, einem Restaurant am Ende des Rennwegs. Unter vier Augen, wie er gesagt hatte. Wie in alten Zeiten, dachte Sarah. Die Treffen mit ihrem alten Schulfreund waren immer seltener geworden. Sie hatte ihn richtig vermisst.
Die Straßenbahnlinie eins fuhr Schneckentempo.
Sarah beobachtete den Verkehr auf dem Ring. Der Ring war verstopft mit Autos, die ununterbrochen hupten. Passanten brüllten und sprangen beiseite, weil Motorradfahrer inzwischen auf den Gehsteigen weiterfuhren. Es sah fast nach Großstadtbetrieb aus, und doch war es nichts als der übliche Stau, an dem die Bahn gemütlich vorbeibimmelte, dieser alltägliche Prachtstraßenrhythmus der Ringstraße mit Blick auf Burgtheater, Parlament, Kunsthistorisches und Naturhistorisches Museum, zuletzt
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