Die falsche Frau
nichts, ihr Kopf war vollkommen leer.
Sarah Rosen setzte sich schweigend neben den Kommissar und sah dem Ende ihrer Laufbahn entgegen. Patrizia Heral hatte mit ihrem Geständnis dafür gesorgt, dass man ihre Behandlungsweise in Frage stellte. François Satek, dem sie besser zu einer Therapie hätte raten sollen, war ihren Gefühlen, diesem Sicherheitsgebäude Analyse, gefährlich in die Quere gekommen.
»Tja«, sagte Sarah Rosen und zuckte mit den Achseln. »Warten wir den Obduktionsbericht ab. Vielleicht beruhen die Verhältnisse zwischen Menschen nur auf Verwechslungen. Auf Wiedererkennen und Variation des Immergleichen. Wir lieben einen Partner und lieben wieder die Mutter, den Vater, den Bruder, die Schwester in ihm. Und wollen wir die Erinnerung, diese Verwechslung, bewusst oder unbewusst, löschen, stehen wir vor einem Rätsel. Löschen geht nicht. Der Kreislauf der Geschichten endet nie.«
Bruno Karlich seufzte tief. »Das bringt uns jetzt doch keinen Schritt weiter!«
Sarah begann auf dem Platz auf und ab zu gehen.
»Manchmal stellt man eben Thesen auf, die man wieder verwerfen muss«, sagte sie. »Diese Fälle hier sind schwierig. Wir haben es mit keinem dieser drastischen Mörder zu tun. Weder im ersten noch im zweiten Fall. Das ist keiner, der Leichen zerstückelt und in die Haut seiner Opfer schlüpft oder Organe tieffriert und davon Polaroids macht. Verlang nicht von mir, dass ich ein Kaninchen aus dem Hut zaubere!«
»Sarah, abgesehen davon, dass du selbst in Gefahr schwebst, haben wir keine Zeit mehr zu verlieren«, sagte Bruno. »Ich sehe noch zu wenig Zusammenhänge. Ich weiß immer noch nicht, welche Rolle Satek spielt, und erst recht nicht, was uns der Einbrecher sagen will, der sich an deiner Unterwäsche zu schaffen gemacht hat. Dass ihr Psychologen den anderen immer die Welt erklären müsst!«
Sarah dachte an ihren Ausbilder, einen Mann, der bei der Militärpolizei gedient hatte, bevor er angewandte Kriminalpsychologie lehrte und später beim FBI arbeitete. Sarah war ihm bis nach New York nachgefahren, um ihre Kenntnisse zu vertiefen. Vierzig Stunden Unterricht im Laufe eines elfwöchigen Kurses an der National Academy. Der Mann hatte Erfahrung und Wissen so kombiniert, dass er glaubhaft war. Zwängt kein Puzzleteil in eine Lücke, die nicht richtig passt, egal wie groß der Druck ist. Denkt die Sache aus allen Perspektiven durch, die der Fall zulässt. Banale, aber wirksame Merksätze.
»Ich kenne die Tote«, platzte Sarah endlich raus. »Ich meine«, korrigierte sie sich, »ich weiß, dass sie die Exfreundin von François Satek ist.«
Das Klacken einer Spiegelreflexkamera machte hinter ihrem Satz einen Punkt.
»Und das sagst du jetzt erst?«
Karlich war perplex.
Der Fotograf wollte das ganz genau festhalten.
Klick.
François war inzwischen wieder aufgetaucht. Er hatte eine Zigarette in den Mundwinkeln. Rauch quoll aus seiner Nase. Dann schnippte er die Kippe weg und ging, ohne nach links und rechts zu sehen, auf Sarah zu.
»Ça va!«, fragte er, als würden sie sich irgendwo auf den Straßen von Paris treffen.
»Lass das«, sagte sie. » Es geht um dich!«
François sah sie provozierend an. »Ich musste mal.«
»Es geht um dich und Claire«, sagte sie leise, streckte ihre Hand aus und zeigte mit einem Nicken zu Semir auf die Leiche. »Sieh dich um. Ich wünschte, ich könnte dir diesen Schrecken ersparen.«
»Claire Raquin aus Paris-Nanterre, zuletzt gesehen am 15. September im Quartier Corbusier«, erklärte Semir. »Das ist Ihre Freundin, François!«
François starrte auf die Tote und brachte nur ein stimmloses Oui heraus, als hätte man ihm die Kehle durchgeschnitten.
28
D ER W EG ZUM P RÄSIDIUM bestand aus einer sinnlosen Abfolge von Schritten, Kurven und Beschleunigungen. Er hätte jetzt genauso gut zur Hölle fahren können. Claire war zurück, und er würde ihr folgen.
François registrierte Dampfwolken vor seiner Nase.
»Trinken Sie«, hörte er Semir sagen.
Der Mann war gut. Kein typischer Bulle. Zigarettenqualm brannte in seinen Augen, er musste sie ständig reiben.
Auf dem Fensterbrett standen diverse Untertassen, auf den Untertassen türmten sich Teebeutel, in denen Kippen steckten. Am Boden Akten. Keine Regale. Kein Abreißkalender. Nichts ließ auf die Bürokratie eines Ermittlungsbeamten schließen.
Semir Aydin war freundlich. Er hatte Tee gekocht, den er in einem winzigen Glas auf einem abgeschlagenen Silberteller servierte.
François
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