Die falsche Frau
der Seite über etwas verfügen konnte, das ihr selbst abhanden gekommen war. Instinkt. Unmittelbarkeit, Mut, vielleicht sogar Angst, dieses Gefühl, das ihn zu ihr geführt hatte. Da gab es Tiefen, die sie noch ausloten wollte. Vielleicht konnte sie ihn für die Fallanalyse gewinnen und ihm ein Angebot machen. Aber wollte sie mit ihm unter einer Decke stecken? Oder anders?
Ihr Immer-und-ewig-Gefühl war das, aber doch keine Professionalität.
Sarah lief zum Kleiderschrank und zog sich an.
Nein, François ließ sich doch nicht an die Kette legen, nie im Leben würde der sich in die Fänge der Kriminalpsychologie begeben! Und Karlich? Was würde er dazu sagen? Ein Legionär bei den Wiener Kriminalbeamten?
Gerade als Sarah mit dem Kopf in einem schwarzen Rollkragenpulli steckte, läutete es an der Tür. Noch im Laufen zog sie den Pullover runter, stürzte aus dem Zimmer und landete geradewegs in den Armen von François. Er grinste verstohlen und hielt sie einen Moment lang fest.
»Morgen.«
»Ich dachte, dass du …«, sagte sie.
Dieselbe Zärtlichkeit wie gestern, als er ihr über das Haar gestrichen hatte.
» … schon weg bist.«
»Pssst«, sagte er und hielt ihr eine Weile den Mund zu.
Sarah fühlte, wie sich die nächste Hitzewelle ankündigte und dass sie sich dagegen wehren wollte. Wütend riss sie die Augen auf.
»Lass das«, murmelte sie unter seiner Hand und ärgerte sich im selben Augenblick über ihre Schroffheit. Sie sah in seine dunkelbraunen Augen.
Er ließ sie los, nahm die Hand weg. Lächelte. Lächelte mehr. Und gerade als sie anfangen wollte, Erklärungen abzugeben, warum sie so und nicht anders sei, läutete es ein zweites Mal.
François blinzelte durch den Spion in der Haustür. Dann öffnete er.
»Alles in Ordnung?«
Bruno Karlich stand in der Tür, an seiner Seite Semir Aydin.
»Was soll denn nicht in Ordnung sein?«, fragte Sarah.
Eine Wolke Rasierwasser kam ihr entgegen. Danach eine besorgte Miene. Typisch Karlich, dachte sie und wanderte mit ihren Blicken zwischen den Männern hin und her. Überfälle wie diese mochte sie gar nicht. Andererseits war das eine willkommene Ablenkung.
»Du musst uns begleiten, Sarah«, sagte Karlich und sah ziemlich verdattert aus. Er deutete auf François.
»Was … was machen Sie denn hier?«
François zuckte mit den Schultern. Schluss mit François, schoss es Sarah durch den Kopf, und dann? Nein, unmöglich. Womit sollte denn auch Schluss sein? Sie hatten nicht mal zusammen geschlafen.
Da standen zwei Beamte.
»Wir haben im Belvedere eine zweite Leiche gefunden«, erklärte Semir.
»Und die Leiche hatte wieder eine Rose zwischen den Lippen«, sagte Karlich.
»Wieder jung«, sagte Semir.
»Und wieder blond.«
Bruno und Semir führten sich auf wie die Sunshine Boys.
Sarah Rosen verkniff sich ein Lachen, weil sie das alles für Theater hielt, obwohl die Situation alles andere als lustig war. Dann beeilte sie sich, Mantel und Stiefel anzuziehen.
»Geht schon mal vor, ich komme gleich«, sagte Sarah, rührte sich einige Sekunden lang nicht vom Fleck, schloss dann die Wohnung ab und ließ sich unten auf der Gasse von einem Strom Fußgänger mitziehen.
Gibt es etwas Lächerlicheres als die Vernunft?, dachte sie. Dieses ewige Abwägen, Beiseitetreten und Dann-doch-nicht?
Jetzt. Jetzt lebte sie.
Weil sie permanent an ihn dachte, weil die ganze Welt nur aus ihm bestand, diesem Mann, der sich, ohne dass sie es bemerkte, in ihr Leben geschmuggelt hatte.
Sarah stieg in den blinkenden Streifenwagen.
Immer diese Angst zu versagen, Fehler zu machen, sich rechtfertigen zu müssen. Was, wenn Patrizia doch in die Fälle verwickelt war? Was, wenn sie gar nicht in der Lage war, diese Frau richtig zu beurteilen?
Damals, als ihre Schwester ermordet worden war, hatte sie lange Zeit keine einzige Träne weinen können, und nun war sie so aufgewühlt, dass sie am liebsten laut losgeheult hätte. Wenn das so weiterging, dachte Sarah, würde sie allein schon wegen dieser Stimmungsschwankungen früher als nötig in den Wechsel kommen. Oder war es François, der sie so aus der Bahn geworfen hatte?
Der Himmel sah wild aus, als sie am Schloss Belvedere ankamen.
Vor dem Schlossportal hatte sich eine Traube Menschen versammelt. Eine Reiseleiterin zeigte gerade auf die Gartenanlage, doch niemand nahm Notiz. Alle sahen rüber zum Streifenwagen.
Karlich war mit Semir vorgegangen. Sarah und François liefen hinterher, gefolgt von Fotografen und einem
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