Die falsche Frau
Die Frau näherte sich
tatsächlich dem Haus, in dem wir uns befanden. Unmittelbar hinter der
Eingangstür war es dämmrig, sie würde im ersten Moment nicht viel sehen. Zudem
war es eng, und es gab nur zwei Richtungen, in die sie sich bewegen konnte: ins
Haus hinein oder zurück auf die StraÃe. Letzteres galt es unbedingt zu verhindern,
und zu diesem Zweck musste ich hinter der Tür sein, bevor sie eintrat.
Im Laufen zückte und entsicherte ich meine Waffe. Auch Balke und
Krauss hielten schon ihre Dienstwaffen in den Händen. Als ich den letzten
Treppenabsatz vor dem Erdgeschoss erreichte, wurde es plötzlich laut im Funk.
Aber ich hörte es auch auf direktem Weg: barsche Rufe auf der StraÃe. »Stehen
bleiben! Halt! Polizei!«
Bremsen quietschten. Ein Schrei. Dann war es still.
Das Erste, was ich sah, waren Orangen. Unzählige Orangen am Boden
verstreut, auf der StraÃe, auf dem Gehweg, im grellen Licht leuchtend wie
tausend kleine Sonnen. Rechts von mir, keine zehn Meter entfernt, stand ein
weiÃer Lieferwagen quer auf der StraÃe. Davor ein lebloser Körper am Boden. Auf
dem Gehweg ein zu Tode erschrockener uniformierter Kollege. Gegenüber zwei weitere,
diese in Zivil. Eine davon eine blasse Frau. Vermutlich die, deren Stimme ich
vor Sekunden im Lautsprecher gehört hatte.
Es war ein Albtraum. Die falsche Frau. Was da am Boden lag, den Kopf
in einer kleinen Blutlache, war die Mutter des Mädchens in der Dachwohnung,
fanden wir innerhalb weniger Minuten heraus. Grund für das Desaster war ein
dummer Zufall. Einer dieser Zufälle, mit denen niemand rechnen kann. Zufälle,
die einfach geschehen und die klügste Planung in Sekundenbruchteilen zunichte
machen.
Die Frau war nur noch wenige Meter von ihrer Haustür entfernt
gewesen, als ein ahnungsloser Kollege um ein Haar mit ihr zusammengestoÃen war.
Er wohnte im Nachbarhaus und war in Uniform und auf dem Weg zu seinem Dienst
aus der Tür getreten. Als sie viel zu sehr erschrak, hatte er sie zunächst
freundlich angesprochen, hatte sie, als sie davonlaufen wollte, am Ãrmel festgehalten,
war in seiner Verwirrung laut geworden. Als er schlieÃlich ihren Ausweis sehen
wollte, hatte sie sich losgerissen, ihre Tüte fallen lassen und versucht, über
die StraÃe zu fliehen.
In ihrer Wohnung fanden wir Papiere. Ludmilla Alexijewitsch stammte
aus WeiÃrussland und hielt sich seit anderthalb Jahren illegal in Deutschland
auf. Das stille Töchterchen hieà Tanja. Anhand einiger auf einem Blöckchen
notierter Telefonnummern fanden wir rasch heraus, dass die Mutter in mehreren
Privathaushalten geputzt und andere Arbeiten verrichtet hatte, um sich und ihr
Kind zu ernähren. Hausbewohner sagten aus, sie sei sehr ruhig gewesen, andere
sagten: scheu. Sie habe, wenn überhaupt, nur gebrochen Deutsch gesprochen. Ganz
im Gegensatz übrigens zu ihrer aufgeweckten und stets freundlichen kleinen
Tochter.
Ludmilla Alexijewitsch war nur leicht mit dem Lieferwagen zusammengeprallt,
aber leider sehr unglücklich gestürzt. Den Fahrer traf keine Schuld. Er war
eher zu langsam als zu schnell gefahren und fast auf der Stelle zum Stehen gekommen.
Zum Glück war sie nicht tot. Der Notarzt diagnostizierte Schädelbasisbruch.
»Die bringen wir durch«, war der schönste Satz, den ich an diesem
Tag hörte.
Nachbarn eine Etage tiefer sagten aus, in den vergangenen
Wochen hin und wieder Schritte in der mutmaÃlichen Wohnung der Terroristin
gehört zu haben, in den letzten Tagen jedoch nicht mehr. Die Person, die einige
Zeit über ihnen gelebt hatte, hatten sie nie zu Gesicht bekommen. Natürlich
fanden meine Leute Spuren. Haare, Fingerabdrücke, Fasern, Hautschuppen. In der
Nacht zum Montag herrschte in den Labors des Landeskriminalamts hektische
Betriebsamkeit. Die Auswertung der Fingerabdrücke war der einfachste Teil der
Aufgabe und sollte rasch erledigt sein. Die zahlreichen DNA-Spuren auszuwerten,
würde dagegen seine Zeit dauern. Zeit, die wir nicht mehr hatten.
In zweieinhalb Tagen würden die Wirtschaftsgespräche beginnen.
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Montag. Noch zwei Tage. Die einzige neue Erkenntnis des
traurigen Morgens war, dass fast alle Fingerabdrücke in der Wohnung gründlich
verwischt waren.
»Es sieht ihr ähnlich«, meinte Helena bei der ersten Fallbesprechung
der neuen Woche. »Sie hat schon damals den Aufenthaltsort beim geringsten
Verdacht gewechselt, beim
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