Die falsche Frau
Untergebenen mit schmalen Augen und groÃer
Aufmerksamkeit zu und sprach heute kaum ein Wort. Als die Sitzung zu Ende war
und wir uns verabschiedeten, wirkte er abwesend und schien Mühe zu haben, sich
an mich zu erinnern. Mein kleiner Druck hinter der Stirn hatte sich zu
ausgewachsenen Kopfschmerzen gemausert.
»Ein Herr Zorn hat angerufen«, empfing mich Sönnchen. »Ich
hab nicht aus ihm rausgekriegt, was er will. Sie wüssten schon.«
Auch sie schien heute schlechter Laune zu sein. Sie drückte mir eines
ihrer kleinen gelben Klebezettelchen in die Hand, auf dem sie die Nummer
notiert hatte.
»Es war eine Sendung auf SWR 3 über die Castor-Transporte nach
Gorleben«, dozierte Eberhard Zorn Sekunden später in mein rechtes Ohr. »Der
Mann, für den Sie sich interessieren, war unter den Demonstranten. Es ging um
eine Sitzblockade auf den Bahngleisen in der Nähe von Lüchow-Dannenberg.«
»Könnte ich die DVD haben?«
»Ich bin eben dabei, eine Kopie für Sie anzufertigen.«
Eine halbe Stunde später glitzerte die mit akkuraten Druckbuchstaben
beschriftete Scheibe auf meinem Tisch. Eine Streifenwagenbesatzung hatte Kurier
gespielt.
»Was ist das denn für ein Idiot?«, hatte der leicht verstörte Kollege
gefragt, der sie ablieferte.
»Wenn wir Glück haben, ein nützlicher.«
Ich schob die DVD gerade ins Laufwerk meines Laptops, als Evalina
Krauss und Sven Balke zur Tür hereingestürzt kamen, um sich die Sensation nicht
entgehen zu lassen.
»Ungefähr Minute zwölf, hat er gesagt«, erklärte ich und schob das
Knöpfchen, das den Ablauf des Films anzeigte, mit Hilfe der Maus langsam nach
rechts und dann wieder ein wenig zurück. Wir sahen einen stillstehenden Zug mit
groÃer, roter Diesellok an der Spitze und einem Lokführer, der gemütlich Pfeife
rauchend aus dem Seitenfenster sah. Wir sahen riesige Wasserwerfer, bunte
Plakate, Transparente, Polizisten, die friedlich dasitzende Atomkraftgegner von
den Gleisen schleppten. AuÃerdem sahen wir viel Regen.
»Angeblich trägt er einen grünen Lodenmantel«, sagte ich.
»Da!« Krauss deutete auf einen älteren, farblosen Mann, der mitten
in einer bunten Gruppe hockte. Die Beschreibung passte: hageres Gesicht, tief
liegende Augen. Er trug eine Art Cowboyhut auf dem Kopf, von dem der Regen
tropfte. Mit stoischer Miene saà er auf den Schienen, die Arme um die Knie
geschlungen, unter Hunderten von Gleichgesinnten. Im Hintergrund plärrte eine Megafonstimme,
die jedoch nicht zu verstehen war. Das drohende Brummen der Diesellok war zu
hören, das näher kommende und sich wieder entfernende Knattern unsichtbarer
Hubschrauber. Ansonsten war es ruhig, auf merkwürdige Weise sogar friedlich.
Ein Grüppchen Demonstranten sang »We shall overcome«. Der Mann im dunkelgrünen
Mantel sang nicht mit.
Die Menschen saÃen wie die Hühner auf den Gleisen, viele hatten
Kissen mitgebracht und Thermoskannen, und warteten geduldig darauf, weggetragen
zu werden. GroÃe, farbenfrohe Luftballons schwebten über der Szene. Der Mann,
auf dessen Mantelkragen nicht weniger als sechs »Atomkraft â nein
danke«-Sticker leuchteten, sprach mit niemandem und vermied offenbar auch
Blickkontakt. Als eine links neben ihm sitzende junge Frau in azurblauer
Outdoorjacke ihn anlächelte, sah er in eine andere Richtung. Die Frau duckte
sich zum Schutz gegen den Regen unter eine durchsichtige Plastikfolie und
drückte ein vielleicht dreijähriges, offenbar schlafendes Kind an sich. Rechts
neben ihm hockte ein kräftiger Kerl mit deutlichem Bierbauch und grimmig
entschlossener Miene. Er trug ein knallrotes Kapuzenshirt, feste Handschuhe und
schwere Stiefel. Der kalte Regen schien ihm nichts auszumachen.
»Wir müssen herausfinden, wo genau die Szene sich abgespielt hat«,
sagte ich.
»Das sollten am ehesten die Fernsehfuzzis wissen«, meinte Balke.
»Vielleicht könnten auch die Kollegen was dazu sagen, die man da im
Einsatz sieht«, überlegte Evalina Krauss.
»Bleibt die Frage, ob es tatsächlich der Typ ist, der in dem Haus
verbrannt ist«, warf Balke ein. »Oder ob dieser komische Zeuge einfach nur
spinnt.«
Mir fiel auf, dass die beiden es angestrengt vermieden, sich zu nah
zu kommen oder auch nur anzusehen.
»Wir brauchen einen der anderen Zeugen, die den Mann gesehen haben.«
Krauss nickte eifrig.
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