Die falsche Frau
sonst zugrunde.«
»Warum gehen Sie nicht hier irgendwo spazieren?«, kam Kollegin
Krauss meiner Frage zuvor.
Eberhard Zorn schien keinen Satz aussprechen zu können, ohne sich
vorher zu räuspern. »Weil es nun einmal meine Gewohnheit ist, auf den Wiesen
zwischen Kirchheim und Sandhausen spazieren zu gehen. Das mache ich seit fünfundvierzig
Jahren so.«
»Und deshalb fahren Sie zweimal am Tag nach Sandhausen und zurück?«
»Ich besitze kein eigenes Auto. Ich nehme ein Taxi.«
Ich konnte meiner Begleiterin ansehen, dass sie im Stillen zusammenrechnete,
wie lange eine Oberkommissarin für das Geld arbeiten musste, das der Mann in
den letzten fünfundvierzig Jahren für Taxifahrten ausgegeben hatte. Noch immer
standen wir in dem dämmrigen und muffig riechenden Flur herum.
»Kommen wir zu dem Mann zurück, den Sie gesehen haben wollen«,
versuchte ich das Gespräch wieder in die richtige Richtung zu lenken.
»Ich will ihn nicht gesehen haben«, erklärte er würdevoll. »Ich habe
ihn gesehen.«
»Sie sagten, es wäre nicht das erste Mal gewesen.«
»Das sagte ich bereits zweimal.«
»Sie haben aber keinen Anhalt dafür, wo sie sein Gesicht schon
einmal gesehen haben?«
»Ich muss es herausfinden, indem ich in meinen Archiven nachsehe.«
Er schien wenig Lust zu verspüren, dies gleich jetzt zu tun. Ich
versuchte, ihn dort zu packen, wo nahezu jeder Mensch zu packen ist: bei seinem
Stolz.
»Was sind das denn für Archive?«
»Nun.« Besonders ausgiebiges Räuspern. »Ich werte Zeitungen aus. Und
Fernsehnachrichten.«
»Klingt sehr interessant.«
»Das ist es auch. ÃuÃerst interessant sogar. ÃuÃerst interessant.
Wenn Sie mich zum Beispiel fragen würden, was am dritten März vor zwanzig
Jahren um fünfzehn Uhr geschehen ist, dann könnte ich Ihnen in wenigen Minuten
erschöpfend Auskunft geben. Sehen Sie, es herrscht eine solche Unordnung in
dieser Welt. Und meine Archive sind ein kleiner Beitrag dazu, diese Unordnung
wenn nicht zu beseitigen, so doch wenigstens zu mindern. Leider ist es
heutzutage fast unmöglich geworden, dem unablässig anschwellenden Informationsstrom
Herr zu werden.« Mutlos wies er auf die am Boden gestapelten Zeitungen. »Sie
sehen, ich habe alle wesentlichen Blätter abonniert. Aber ich schaffe es kaum
noch, sie alle auszuwerten. Meine Kräfte lassen nach. Deshalb habe ich auch
erst heute von dem Brand erfahren. Fernsehsendungen zeichne ich auf, das
funktioniert zum Glück automatisch. Elf Sender, rund um die Uhr. Aber auch das
will natürlich alles gesichtet und bewertet werden. Was wichtige Informationen
enthält, wird archiviert, der Rest wird gelöscht. Das alles ist eine ganz
enorme Arbeit â¦Â« Räuspern. Ein deutlicher Blick zur Uhr. »Und deshalb passt mir
Ihr Besuch im Moment leider gar nicht.«
»Aber es ist doch bestimmt eine Kleinigkeit für Sie, den Artikel zu
finden oder den Zeitungsausschnitt â¦Â«
Der kleine Mann wurde eine winzige Spur gröÃer.
»Einerseits ist richtig, was Sie sagen. Andererseits kommt in
zweiundsiebzig Minuten mein Taxi. Ich habe einen Arzttermin, den ich nur ungern
verschieben möchte.«
»Wir könnten ja einfach schon mal anfangen«, schlug Krauss mit ihrem
charmantesten Lächeln vor. »Vielleicht haben wir ja Glück.«
Zorn sank wieder ein wenig in sich zusammen.
»Ich würde mit der Auswertung weiter in Rückstand geraten. Ich weiÃ
nicht â¦Â«
Nach einigem Hin und Her war er schlieÃlich bereit, uns wenigstens
einen Blick auf seine heiligen Archive werfen zu lassen. Es war erschütternd.
Das Haus war vom Keller bis zum Dachboden voller Regale mit Tausenden und
Abertausenden von Ordnern und â ungefähr seit dem Jahr 2000 â zunehmend auch
CDs und DVDs. Selbst die Küche war nur noch zur Hälfte in ihrer eigentlichen
Funktion nutzbar. Im ehemaligen Wohnzimmer bestaunten wir eine Sammlung von
Video- und DVD-Rekordern, die alle im Aufzeichnungsmodus arbeiteten. Daneben
drei dunkle Flachbildfernseher und ein teurer Laptop, der, so erklärte uns der
Hausherr ohne jede Spur von Stolz, zum Herauskopieren der aus seiner Sicht
aufbewahrenswerten Passagen der aufgezeichneten Fernsehprogramme diente.
»Ab Oktober werde ich auch BBC und vier weitere englischsprachige
Programme empfangen«, wurden wir aufgeklärt.
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