Die falsche Frau
Dreckskerl eigentlich vor meinen
Kindern? Die beiden setzten sich nun ebenfalls und starrten mich ratlos an.
»Wenn du nicht Polizist wärst, wenn du dich nicht an deine
Vorschriften halten müsstest, würdest du dann irgendwas gegen den Typ machen?«
»Das ist doch eine völlig hypothetische Frage, Kinder. Es hat
überhaupt keinen Sinn, darüber nachzudenken.«
»Doch«, fand Sarah. »Das macht schon Sinn. Mit einer hypothetischen
Frage fängt nämlich jede Veränderung an.«
Was für ein Satz aus dem Mund eines Mädchens, das gerade eben
sechzehn geworden war!
»Also gut«, begann ich lahm. »Wenn ich ehrlich bin â¦Â«
»Zu uns sagst du, man muss immer ehrlich sein.«
»Ist ja gut, okay. Wenn ich könnte, wie ich wollte, dann würde ich
diesem Mister Henderson vermutlich Handschellen anlegen, sobald er deutschen
Boden betritt. Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich nach Amerika fliegen
und diesen verschwundenen Säufer auftreiben und mit der Mutter sprechen und
versuchen, das Verfahren neu aufzurollen. Seid ihr jetzt zufrieden? Und wenn
das morgen in der Zeitung steht, dann bin ich übermorgen nicht mehr Polizist,
und es gibt kein Taschengeld mehr.«
»Anja Stern«, sagte eine trotz der späten Stunde
erstaunlich frische Frauenstimme. »Sie wollten mich sprechen?«
Ich war gerade dabei gewesen, ins Bett zu gehen, und steckte erst
mit einem Bein in der Pyjamahose, als mein Handy Alarm schlug. Es war schon
halb zwölf vorbei, und ich brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, mit
wem ich sprach. Es war die Frau, die für einen Hungerlohn putzen ging, um für
ihr Buch Material zu sammeln. Ich bedankte mich für den Rückruf und sank
reichlich unelegant auf die Bettkante.
»Es geht um einen gewissen Jonas.«
»Ich weiÃ.«
Die Suche nach dem schwarz gekleideten Mann hatte ich am späten
Abend ergebnislos abbrechen lassen.
»Sie kennen ihn, hat man mir gesagt.«
»Wir sind uns einige Male über den Weg gelaufen. Jonas jobbt hin und
wieder, wenn er Geld braucht. Einmal haben wir bei derselben Firma gearbeitet.
Eine Firma in Weinheim, die Stanzteile für Waschmaschinen herstellt. Eine
schrecklich eintönige und auÃerdem ungesunde Tätigkeit. Wir haben an zwei
benachbarten Maschinen gesessen. Später haben wir uns auf Demos getroffen.
Einmal in Gorleben, wenn ich mich richtig erinnere, einmal in Berlin. Jonas ist
einer von denen, die sich gerne irgendwo anketten.«
»Wie ist sein vollständiger Name?«
Sie zögerte eine Spur zu lange. »In der Szene sind wir alle per Du.«
»Gehört er irgendeiner Organisation an? Einer Gruppe?«
»Typen wie Jonas halten jegliche Art von Organisation für den Beginn
aller Unterdrückung.«
Allmählich machte es mich nervös, dass ich ihr jedes Quäntchen
Information aus der Nase ziehen musste. AuÃerdem war ich müde.
»Stammt er aus Heidelberg?«
»Nach seinem Akzent würde ich auf Bayern tippen. Franken. Ich meine,
er hat mir mal erzählt, seine Eltern hätten irgendwo in der Nähe von Nürnberg
einen Bauernhof.«
»Und er geht keiner geregelten Beschäftigung nach?«
»Jonas schnorrt sich durch. Hin und wieder jobbt er auch. Alles, was
er besitzt, passt in seinen Rucksack.«
»Weshalb ist er vorgestern bei Ihnen aufgetaucht? Wo hat er vorher
gewohnt?«
»Weià ich nicht, weià ich nicht. Wir fragen nicht nach Gründen, wenn
jemand bei uns schlafen will. Wir sind der Meinung, ein Dach über dem Kopf
zählt zu den grundlegenden Menschenrechten. Mag ja sein, dass man das bei der
deutschen Polizei anders sieht â¦Â«
»Haben Sie eine Idee, warum er es so eilig hatte, als ich an die Tür
geklopft habe?«
»Nein. AuÃerdem sehe ich mich nicht als Hilfsbüttel der Strafverfolgungsbehörden.«
»Frau Stern, der Mann hat auf einen meiner Mitarbeiter geschossen
und ihn verletzt. Gehört es aus Ihrer Sicht auch zu den grundlegenden
Menschenrechten, auf andere zu schieÃen?«
»Selbstverständlich nicht. Wir verurteilen jegliche Art von Gewalt,
soweit sie sich gegen Menschen richtet. AuÃerdem kann ich mir nicht vorstellen,
dass Jonas eine Waffe besitzt oder gar davon Gebrauch macht. Er ist ein
zutiefst friedfertiger Mensch.«
»Das heiÃt, Gewalt gegen Sachen ist akzeptabel?«
»Unter Umständen ja.«
Das
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