Die falsche Tochter - Roman
stehen sie nicht allein da.«
»Das Bauvorhaben ist sowieso vom Tisch. Kathy Dolan – Rons Witwe – war gestern Abend bei mir. Sie möchte das Grundstück an die Naturschutzorganisation verkaufen. Über den Preis werden wir noch verhandeln müssen, aber wir werden uns sicherlich einig. Am Antietam Creek wird nicht gebaut.«
»Dadurch macht ihr Umweltschützer euch auch nicht gerade beliebt.«
»Bei manchen sicher nicht.« Er lächelte. »Bei anderen dafür umso mehr.«
»Es ist nur eine Spekulation, aber könnte jemand Dolan umgebracht haben, damit seine Frau verkaufen muss?«
»Auch das kann ich mir nicht vorstellen. Und ich will es mir lieber auch nicht vorstellen. Ich kenne die Stadt und die Leute, die hier leben. Kein Mensch regelt hier die Dinge auf diese Art.«
Er stand auf, um ihr Kaffee nachzuschenken. Draußen im Laden klingelte das Telefon, aber er ignorierte es. »Es gab viele Leute, die eine hohe Meinung von Ron hatten, aber auch viele, die nichts von ihm hielten. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von ihnen in der Lage gewesen wäre, ihm den Schädel einzuschlagen und ihn ins Wasser zu werfen.«
»Das Gleiche könnte ich von meinem Team sagen. Manche kenne ich zwar nicht so gut, wie Sie Ihre Nachbarn kennen, aber Archäologen neigen eigentlich nicht dazu, Leuten den Schädel einzuschlagen, wenn es Streitigkeiten gibt.«
»Du liebst deine Arbeit.«
»Ja, alles daran.«
»Dann ist sicher jeder Tag für dich ein Abenteuer.«
»Na ja, manche Tage sind abenteuerlicher als andere. Ich sollte mich jetzt auch langsam mal wieder in Richtung Feld bewegen.« Aber sie stand nicht auf. »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
»Selbstverständlich.«
»Was ist zwischen Suzanne und Jay vorgefallen?«
Roger stieß geräuschvoll die Luft aus und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich glaube, die meisten Tragödien ziehen andere Tragödien nach sich. Wir sind alle völlig durchgedreht, nachdem du entführt worden warst. Wir waren vor Entsetzen wie gelähmt – ich kann es gar nicht beschreiben.«
Er nahm seine Brille ab, als sei sie ihm auf einmal zu schwer. »Wer entführte ein unschuldiges Kind? Was wollten sie dir antun? Wie hatte das nur passieren können? Wochenlang haben wir an nichts anderes gedacht. Es gab zwar Verhöre, aber sie führten nie zu irgendeinem Ergebnis. Du warst einfach spurlos verschwunden.«
Er schwieg einen Moment lang und faltete seine Hände auf dem Tisch. »Vorher waren wir eine ganz normale Familie gewesen und haben ein ganz normales Leben geführt. Aber durch diesen Vorfall haben wir uns alle verändert. Suzannes Verhältnis zu Jay hat sich verändert.«
»Inwiefern?«
»Suzanne konzentrierte sich nur noch darauf, dich wiederzufinden. Sie bedrängte die Polizei, ging zum Fernsehen, wandte sich an Zeitungen und Zeitschriften. Sie war immer eine glückliche Frau gewesen. Versteh mich nicht falsch, sie hat nicht den ganzen Tag gesungen und gelacht, aber sie war zufrieden mit dem Leben, das sie führte. Sie hatte keinen außergewöhnlichen
Ehrgeiz, sondern wollte nur Jay heiraten, eine Familie gründen und sich ein schönes Zuhause schaffen. Das war das Einzige, was sie sich wirklich wünschte.«
»Auf solchen Wertvorstellungen gründet sich die Gesellschaft. Ohne ein Heim hat der Mensch keine Basis, um zu komplexeren Ebenen vorzudringen.«
»Das ist eine interessante These. Nun gut, es war beiden wichtig, eine solche Basis zu schaffen. Jay war – und ist – ein guter Mann. Solide, verlässlich, ein guter Lehrer, dem seine Arbeit und seine Schüler etwas bedeuten. Er hat sich schon in Suzanne verliebt, als die beiden sechs waren.«
»Das ist ja süß«, erwiderte Callie. »Ich wusste gar nicht, dass sie sich schon als Kinder kannten.«
»Suze und Jay. Die Leute sprachen ihre Namen aus wie ein einziges Wort.« Es tat Roger weh, wenn er daran dachte, dass es damit vorbei war. »Keiner von beiden zog jemals ernsthaft jemand anders in Betracht. Als sie alt genug waren, heirateten sie. Jay unterrichtete, und Suzanne blieb zu Hause. Zuerst kam Doug zur Welt, dann ihre Tochter. Ein perfektes Bild. Das junge Paar, zwei Kinder, ein hübsches kleines Haus in ihrer Heimatstadt.«
»Und dann brach plötzlich alles zusammen.«
»Ja.«
Er würde nie den Klang von Suzannes Stimme vergessen, als sie damals anrief. Daddy, Daddy, jemand hat Jessie entführt! Jemand hat mir mein Baby weggenommen.
»Das Leid hat meine Tochter zerstört, und es hat ihre
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