Die falsche Tochter - Roman
dich nie wieder so unter Druck setzen will wie neulich in Lanas Büro.« Sie lachte kurz auf. »Ich werde zumindest versuchen , dich nicht mehr so unter Druck zu setzen. Aber ich möchte dich kennen lernen, Callie, und ich möchte, dass du mich kennen lernst. Ich weiß, dass du versuchst, die Vergangenheit zu … rekonstruieren. Betsy Poffenberger hat mich heute früh angerufen. Sie hat dich auch im Radio gehört.«
»Das muss eine beliebte Sendung sein.«
»Offensichtlich. Sie hat mir erzählt, dass du bei ihr warst, und sie wollte sich bei mir vergewissern, dass es in Ordnung ist, wenn sie dir Informationen gibt. Aber in Wahrheit wollte sie mich über dich ausfragen. Ich habe ihr nichts gesagt, aber die Leute beginnen, eins und eins zusammenzuzählen.«
»Ich weiß. Kommst du damit klar?«
»Das weiß ich noch nicht.« Suzanne legte eine Hand auf ihren Bauch. »Ich bin ziemlich nervös. Die Vorstellung, Fragen zu beantworten, wo alles noch so in der Schwebe hängt, ist schwer. Aber ich kann damit umgehen. Ich bin stärker, als du vielleicht denkst.«
»Ich habe einige deiner Briefe gelesen, und ich glaube, du bist eine der stärksten Frauen, die ich kenne.«
»Oh. Nun.« Suzanne traten die Tränen in die Augen, und sie wandte sich einen Moment lang ab. »Es ist nett, wenn einem die erwachsene Tochter so etwas sagt. Ich möchte wirklich, dass du mir mehr über deine Arbeit hier erzählst. Ich möchte verstehen, was du tust und wer du bist. Wir wollen uns doch wohl miteinander fühlen. Das würde mir für den Augenblick schon genügen.«
»Ich arbeite hier an diesem Befund.« Callie ergriff Suzannes Arm und drehte sie um. »Wir wissen, dass es an diesem Ort eine neolithische Siedlung gegeben hat. Und ungefähr hier befand
sich der Friedhof. Siehst du, hier haben wir eine niedrige Steinmauer freigelegt, die den Friedhof umgab. Wenn wir Knochen ausgraben – Knochen sind übrigens meine Spezialität.«
»Knochen sind deine Spezialität?«
»Ja. Ich wäre fast in die forensische Archäologie gegangen, aber da verbringt man zu viel Zeit im Labor. Ich grabe gerne. Hier, schau, das habe ich vor ein paar Tagen gefunden.«
Callie bückte sich nach ihrem Klemmbrett, blätterte ein paar Seiten zurück und zog das Foto eines Schädels heraus. »Er ist schon im Labor, deshalb kann ich ihn dir leider nicht in echt zeigen.«
»Das reicht schon.« Suzanne griff nach dem Foto. »Da ist ja ein Loch. War das eine Verletzung?«
»Eine Trepanation. Eine Operation«, fügte Callie erklärend hinzu, als Suzanne sie verständnislos anblickte. »Mit einem Steinmesser oder einem Bohrer wurde ein Stück aus dem Schädel entfernt. Wir nehmen an, dass sie damit den Schädeldruck bei Frakturen oder Tumoren verringern wollten.«
»Du machst Witze!«
»Nein. Es muss schrecklich wehgetan haben. Die Methoden waren zwar grob und schmerzhaft, aber sie haben versucht, die Kranken und Verletzten zu heilen. Ein Stamm schließt sich zusammen, um sich verteidigen und überleben zu können, und bildet eine Siedlung. Wenn dich die Hütten und Rituale interessieren, kannst du mit Graystone sprechen. Die Menschen haben gejagt und Versammlungen abgehalten. Sie betrieben auch Ackerbau«, fuhr sie fort und wies auf einen noch unberührten Bereich. »Und sie domestizierten Tiere. Aus einer Siedlung entstand ein Dorf, und aus dem Dorf eine Stadt. Warum? Warum gerade hier, warum gerade sie?«
»Dich fasziniert es, herauszufinden, wer und wie die ersten Siedler waren, nicht wahr?«
»Ja.« Callie warf Suzanne einen erfreuten Blick zu. »Und um das zu erfahren, muss die Ausgrabung ganz genau geplant werden – vorausgesetzt, du hast die Erlaubnis zum Graben,
genug Finanzmittel und ein Team. Wenn man einfach anfängt, wild draufloszugraben, zerstört man das Gelände. Deshalb muss jeder Schritt und jede Phase detailliert geplant und dokumentiert werden.«
Jake beobachtete aus der Ferne, wie Callie Suzanne auf dem Feld herumführte. Er konnte an Callies Körpersprache ablesen, wie sie sich fühlte. Als Suzanne plötzlich vor ihr gestanden hatte, hatte Callie sich im ersten Moment sofort eingeigelt, aber mittlerweile wirkte sie ganz entspannt. Jetzt ist sie in ihrem Element, dachte Jake, als er sah, wie sie gestikulierte und Bilder zeigte.
»Es ist schön, die beiden zusammen zu sehen«, sagte Lana, die neben ihn getreten war. »Vermutlich ist es für beide nicht einfach, eine gemeinsame Basis zu finden, ohne sich gegenseitig zu verletzen. Ich
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