Die falsche Tochter - Roman
werden musste. Es hatte ihr unendlich viel bedeutet, danach endlich ein gesundes Mädchen zur Welt zu bringen.
Und dann fand Callie zu ihrer Erleichterung auch die Unterlagen über die dritte Schwangerschaft ihrer Mutter. Wegen der vorangegangenen Fehlgeburten war der behandelnde Gynäkologe natürlich besorgt gewesen und hatte ihrer Mutter während der ersten drei Monate strikte Bettruhe verordnet. Dr. Henry Simpson hatte die Schwangerschaft sorgfältig überwacht. Im siebten Monat war ihre Mutter wegen Bluthochdruck und Dehydrierung aufgrund morgendlicher Übelkeit für zwei Tage ins Krankenhaus eingewiesen worden. Dort war sie behandelt und dann entlassen worden. Und genau an diesem Punkt endete zu Callies Verwirrung die Dokumentation der Schwangerschaft. Danach war ihre Mutter erst wieder ungefähr
ein Jahr später wegen eines verstauchten Knöchels behandelt worden.
Rasch blätterte Callie die übrigen Krankenberichte durch, überzeugt davon, noch weitere Aufzeichnungen über die Schwangerschaft zu finden. Aber sie fand nichts; es gab keinerlei Unterlagen. So, als ob die Schwangerschaft im siebten Monat beendet gewesen wäre. Callies Magen krampfte sich unwillkürlich zusammen, als sie erneut aufstand und an den Aktenschrank trat. Sie öffnete die nächste Schublade, fand jedoch auch darin keine weiteren medizinischen Berichte. Dann hockte sie sich hin und versuchte, die unterste Schublade aufzuziehen. Sie war verschlossen.
Einen Moment lang verharrte Callie zögernd vor dem polierten Holzschrank, die Hand auf dem Messinggriff. Dann ging sie zum Schreibtisch und suchte nach dem Schlüssel. Als sie ihn nicht fand, ergriff sie den Brieföffner, kniete sich wieder vor die Schublade und brach das Schloss auf. Sie entdeckte eine rechteckige Metallkassette, die ebenfalls verschlossen war. Callie nahm sie mit zum Schreibtisch und setzte sich wieder. Eine Weile lang starrte sie die Kassette einfach nur an und wünschte sich, sie würde verschwinden.
Sie konnte sie natürlich wieder in die Schublade legen und so tun, als sei sie gar nicht da. Was auch immer sie enthielt, es war etwas, das ihr Vater unbedingt verstecken wollte. Mit welchem Recht verletzte sie seine Privatsphäre? Aber machte sie das nicht ohnehin jeden Tag? Sie drang in die Privatsphäre von Toten ein, um ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken. Und jetzt wollte sie den Inhalt der Metallkassette untersuchen, weil sie womöglich Geheimnisse enthielt, die ihr eigenes Leben betrafen.
»Es tut mir Leid, Dad«, sagte sie laut und brach mit einiger Mühe das Schloss mit dem Brieföffner auf. In der Kassette lagen weitere Unterlagen. Callie nahm den obersten Bogen heraus und begann zu lesen.
Vivian hatte keine dritte Fehlgeburt gehabt, aber sie hatte auch kein Kind geboren. Der Fötus in Vivian Dunbrooks Leib war in der ersten Woche des achten Schwangerschaftsmonats
gestorben. Man hatte die Wehen eingeleitet, und am 24. Juni 1974 hatte sie ein totes Mädchen zur Welt gebracht. Die Diagnose lautete auf Schwangerschaftsvergiftung. Die Muttermundschwäche und der extreme Bluthochdruck während dieser letzten Schwangerschaft machten eine weitere Schwangerschaft zu gefährlich. Und eine Hysterektomie, die zwei Wochen später durchgeführt wurde, machte sie unmöglich.
Anschließend wurde Vivian wegen Depressionen behandelt.
Am 16. Dezember 1974 adoptierten Elliot und sie ein Mädchen, das sie Callie Ann nannten. Es war eine private Adoption, die ein Anwalt arrangiert hatte. Für seine Arbeit hatte er zehntausend Dollar bekommen. Zusätzlich wurden über ihn zweihundertfünfzigtausend Dollar an die unbenannte biologische Mutter gezahlt. Der Säugling wurde von Dr. Peter O’Malley, einem Bostoner Kinderarzt, untersucht und für gesund befunden. Die nächste Untersuchung – die übliche Vorsorgeuntersuchung im Alter von sechs Monaten – hatte Dr. Marilyn Vermer in Philadelphia durchgeführt. Sie war bis zu Callies zwölftem Lebensjahr ihre Kinderärztin geblieben.
»Bis ich nicht mehr zum Babydoktor wollte«, murmelte Callie vor sich hin. Zu ihrer eigenen Überraschung fiel eine Träne auf das Dokument.
Callies Magen krampfte sich erneut zusammen, und sie schlang die Arme um ihren Leib und beugte sich vor, bis der Schmerz nachließ. Das durfte alles einfach nicht wahr sein. Wie konnten ihre Eltern, von denen sie glaubte, dass sie sie noch nie angelogen hatten, während all dieser Jahre mit einer solchen Lüge leben? Es war einfach nicht möglich.
Callie
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