Die falsche Tochter - Roman
trug er Kopfhörer, und Callie wusste, dass er die Musik ganz laut gestellt hatte, was seiner Konzentration jedoch keinen Abbruch tat. Am nächsten Segment arbeitete Rosie, die kaffeebraune Haut bedeckt mit Schweiß. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die beiden Studenten trugen Eimer voller Erde zu der Stelle, an der sie durchgesiebt wurde. Leo und Jake machten gerade ein paar Fotos von dem Abschnitt, auf dem sie arbeiteten. Callie ging zu dem Segment, das am weitesten von den anderen entfernt lag. Sie wollte nachdenken und wusste
aus Erfahrung, dass sie sich am besten konzentrieren konnte, wenn sie sich ein wenig abseits von der Gruppe hielt.
Sie beschloss, dass sie einen Projektfotografen brauchten, noch einen Assistenten für die Fundstücke sowie weitere Hilfskräfte zum Graben und mehr Spezialisten. Sie standen zwar noch ganz am Anfang, aber für Callie war es nie zu früh, ein starkes Team zu planen. Immer wieder gab sie die abgetragene Erde in ein Sieb. Ab und zu hielt sie inne, um eine neue Schicht mit der Kamera zu dokumentieren. Trotz der zahlreichen Mücken, die sie umschwärmten, arbeitete sie methodisch weiter und konzentrierte sich nur auf das, was sie gerade tat. Wenn sie einen Knochen freigelegt hatte, vermerkte sie es sorgfältig auf ihrem Berichtsblatt. Es war heiß, und der Schweiß lief ihr übers Gesicht und rann ihr den Rücken hinunter. Callie zog sich die Bluse aus und arbeitete im Unterhemd weiter.
Dann entdeckte sie plötzlich tief unten in der feuchten Erde einen Schädel. Vorsichtig arbeitete sie weiter, und als sie schließlich zwei Skelette zur Hälfte freigelegt hatte, hockte sie sich hin und blickte sich auf dem Feld um. Als ob sie sich telepathisch miteinander verständigt hätten, hörte auch Jake in diesem Moment auf zu arbeiten und kam zu ihr herüber.
Gemeinsam blickten sie auf die Knochen, ein größeres Skelett und dicht daneben ein kleines. Es war, als wollten sie ihnen ihre Geschichte erzählen.
»Sie sind zusammen begraben worden«, sagte Callie nach einer Weile. »Der Größe nach zu urteilen, stammt das kleine Skelett von einem Säugling, der bei der Geburt oder kurz darauf gestorben ist. Das andere ist wahrscheinlich die Mutter, das kann uns das Labor sicherlich bestätigen. Sie sind zusammen begraben worden«, wiederholte sie.
»Leo soll es sich einmal anschauen. Wir müssen den Rest der beiden Skelette freilegen und dieses ganze Segment hier ausgraben. Wenn diese Menschen so weit entwickelt waren, dass sie diese beiden hier gemeinsam beerdigt haben, dann werden das nicht die einzigen Skelette hier sein.«
»Nein. Sie sind nicht allein hier. Das ist ein Friedhof.«
Ob sich die beiden wohl geliebt haben?, fragte sie sich. Hatte Suzanne sie wohl auch so im Arm gehalten, als sie zur Welt gekommen war? Ganz nah bei sich und sicher? Wie viel bekam ein Baby vor der Geburt und in den ersten Augenblicken seines Lebens von seiner Mutter mit? Waren Mutter und Kind von Anfang an emotional miteinander verbunden? Aber galt dies alles nicht auch für ihre Adoptivmutter? Hatte Vivian Dunbrook nicht die gleiche Bindung verspürt, als sie das Baby, nach dem sie sich so gesehnt hatte, zum ersten Mal im Arm hielt? Was machte denn das Verhältnis zwischen Eltern und Kind aus, wenn nicht die Liebe? Und Callie sah vor sich den Beweis, dass diese Liebe tausende von Jahren überdauerte. Warum machte sie der Gedanke bloß so schrecklich traurig?
»Bevor wir sie ausgraben, müssen wir einen Vertreter der amerikanischen Ureinwohner zu Rate ziehen.« Jake legte Callie die Hand auf die Schulter, während er neben ihr vor den Skeletten kniete. »Ich übernehme die nötigen Telefonate.«
Sie richtete sich auf. »Das kannst du gerne tun, aber wir müssen die auf jeden Fall hier herausholen. Nein, widersprich nicht«, fuhr sie fort, noch bevor er den Mund aufmachen konnte. »Rituale und Empfindlichkeiten hin oder her – sie sind jetzt der Luft ausgesetzt worden. Wenn wir sie nicht präparieren, vertrocknen sie und zerfallen zu Staub.«
Jake blickte zum Himmel, an dem dunkle Wolken aufgezogen waren. In der Ferne hörte man bereits Donner grollen. »Heute wird gar nichts mehr austrocknen. Es gibt ein Gewitter.« Er zog sie hoch. »Komm, lass uns die Fotos machen, bevor es regnet. Sei nicht traurig«, fuhr er fort und rieb mit dem Daumen über einen frischen Kratzer auf ihrem Handrücken.
Callie riss sich los. »Es ist ein entscheidender Fund.«
»Und er trifft
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