Die Falsche Tote
dabei schien es den anderen gar nicht nahe zu gehen, dass sie zwei illegale Flüchtlinge hatte auffliegen lassen. Sie empfand eine solche Wut gegen Elvira Muharremi. Sofi wäre nie auf die Idee gekommen, die anderen nach ihrem Ausweis zu fragen, wenn Elvira sie eingelassen hätte. Obwohl das auch Unsinn war. Auch dann hätte keine von den dreien das Mädchen auf der Zeichnung wiedererkennen wollen, und damit hätte sie sich nicht zufriedengegeben.
Sten hatte nicht vor, große Worte zu machen. »Deine Probezeit läuft am Montag ab«, sagte er beiläufig und umrundete dabei seinen Schreibtisch.
»Daran habe ich überhaupt nicht mehr gedacht.«
»Das hat keiner. Außer der Personalabteilung. Du hast gute Arbeit gemacht. Du bist jung und übermotiviert, genau wie ich.«
»Was wäre denn ›normal motiviert‹?«
Sten lächelte und wog Sofis Personalakte in seinen Händen. »Nicht genug für die Reichskrim. Was hat es mit den Computern auf sich?«
Sofi zuckte mit den Achseln. Einfach weiterlügen, das hatte bisher hervorragend geklappt. »Ich hab nur gern rumgeschraubt.«
»Können wir davon ausgehen, dass du deine ganze Kapazität auf deine Tätigkeit bei der Reichskriminalpolizei richtest?«
»Das könnt ihr«, sagte sie, und das konnte man ja kaum als Lüge bezeichnen.
»Du willst also bleiben?«
»Darf ich?«
Sten nickte und hatte auf einmal einen Bogen Papier in der Hand, den er mit seiner Unterschrift versah. Noch während er seinen Füller zuschraubte, erhob er sich aus dem Sessel und reichte ihr über seinen Schreibtisch hinweg die Hand.
»Dann herzlich willkommen. Die Welt wartet auf mich.« Bei Sten wusste sie nie genau, wie ernst er etwas meinte und wie ernst er sich selbst nahm.
Sie traute sich erst, auf ihre Urkunde zu schauen, als sie die Hälfte des Ganges zurückgelegt hatte und hinter ihrem Rücken die Treppenhaustür ins Schloss fallen hörte. Für einen Moment blieb sie stehen, um den Text zu studieren. Sie war jetzt Inspektorin.
67
»Die beiden sind noch nicht so lange hier, oder?«
Elvira Muharremi schwieg. Barbro war sich sicher, dass Elvira die Antwort auf das Rätsel suchte, wie der Polizei das nur gelungen war.
»Sind sie mit dir verwandt?«, fragte Barbro weiter. »Die Jüngere ist doch noch nicht mal sechzehn. Ich habe gerade mit deinem Chef im Ica-Markt gesprochen. Der hält ja große Stücke auf dich. Du bist für die Gemüseabteilung verantwortlich.«
Elvira wusste nicht genau, ob das eine Frage war. Es war keine. Barbro sprach einfach weiter.
»Wir haben zuerst geglaubt, dass die beiden mit dir verwandt sind, aber inzwischen wissen wir, dass das nicht sein kann. Die Jüngste kommt noch nicht mal aus dem Land, aus dem du stammst. Und jetzt fragen sich alle, was die beiden bei dir zu suchen haben.«
Elvira schwieg. Barbro hatte nicht viel Erfahrung darin, Flüchtlinge und Ausländer zu verhören. Deshalb hielt sie sich an Ullas Empfehlung, zu Beginn die Spannung nicht sinken zu lassen, denn dann bekam man gleich eine Lügengeschichte zu hören. Barbro sollte Elvira erst in die Enge treiben und dann an Ulla übergeben.
»Die beiden haben bei dir übernachtet. Als es geklingelt hat, wen hast du da erwartet?«
»Ich habe niemanden erwartet.«
»Doch, das hast du. Wir haben in deiner Wohnung Fingerabdrücke von vierundzwanzig Menschen gefunden.«
Elvira würde es nicht sagen, das wurde Barbro in diesem Augenblick endgültig klar. Sie zog die Bilder von Aisakos und Klara aus der Mappe. Der Name Klara war bestimmt falsch.
»Du kennst diese beiden, zumindest das Mädchen.«
Elvira schüttelte den Kopf.
68
Henning und Per hatten sich an die Wand des Transits gelehnt, um in der tiefstehenden Abendsonne ein Leichtbier zu genießen. In der Baumkrone flogen zweimal die Vögel auf, ohne dass Henning einen Grund dafür entdecken konnte. Er hatte die Liste gefaltet in der Brusttasche seines Hemdes stecken und konnte sie noch einmal überfliegen, ohne sie herausziehen und ansehen zu müssen, so oft hatte er an diesem Tag daraufgestarrt. Was an dieser Liste nicht stimmte, war die Tatsache, dass sie in keiner der aufgebrochenen Wohnungen auch nur den geringsten Anhaltspunkt gefunden hatten.
Ein kleines Mädchen kam auf seinem Roller vorbei und ächzte laut, obwohl es ihr kaum Anstrengung bereiten konnte, den Roller in Schwung zu halten. Sie ächzte, weil ihr die Aufmerksamkeit der beiden Männer an dem großen Auto nicht entgangen war. Und weil sie wusste, dass Arbeit immer Kraft
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