Die Falsche Tote
niemand rief sie herein. Irgendwie wusste sie, dass sie das selbst tun musste.
Eine Frau mit kurzen Haaren stand an einer Einbauküche und hatte Linda den Rücken zugekehrt. Die Küche wirkte in der Ecke des hohen und weiten Saales wie eine Miniatur. Die spöttische Stimme der Morgenmoderatorin von P5 hallte zwischen den entfernten Wänden hin und her. Sie kam von einem kleinen tragbaren Radio, das auf dem Tisch in der Mitte stand.
»Hallo?«, rief Linda vorsichtig vom Eingang aus.
Die Frau drehte sich herum. Sie war weit über zwanzig und sah Linda ratlos an. Nun ja, es war ja klar gewesen, dass es nicht wie in der Schule sein würde.
»Linda Cederström«, sagte Linda, aber damit konnte die Frau nichts anfangen. Ihr Blick war jetzt skeptisch. Sie fuhr fort, eine große Tasse abzutrocknen. »Ich soll heute hier anfangen.«
Linda bekam ein Nicken zur Antwort, konnte daran aber nicht ablesen, ob die Frau davon gewusst hatte.
»Die anderen kommen noch. Ich bin Kjersti. Du kannst dich ja umschauen, bis der Kaffee fertig ist.«
Linda nickte und lehnte ihre Zeichentasche an die Wand. Sie schlenderte mit selbstauferlegter Langsamkeit im Saal herum und schaute ein bisschen, aber das war nur Attrappe. Von dem großen Saal gingen einige Nischen ab. Es war so unordentlich, als hätte Papa hier gerade das Abendessen gekocht. Überall standen bekleckerte Farbtöpfe, Müll und Holzfiguren, die man sich für Körperstudien zurechtbiegen konnte. Der Geruch nach Farbe kam ihr auf einmal fremd vor. Durch die hohen Fenster flutete die Morgensonne in den Raum. Das Gebäude lag gleich am Wasser. Am anderen Ufer lag die Häuserfront der Altstadt und links davon die Küste von Söder bis nach Nacka. Die große Uhr des Katarina-Aufzugs am Slussen zeigte neun Uhr vier.
»Du kannst dich an den Tisch setzen«, rief Kjersti mit norwegischem Akzent.
An dem Tisch hatte bestimmt jeder seinen festen Platz, deshalb sank sie nur halbherzig auf den ersten Stuhl, den sie erreichte. Auch im Saal standen die Staffeleien und Tische wie Wagenburgen angeordnet, so dass die Schüler einander bei ihrer Arbeit bestenfalls hören konnten. Die Bilder waren alle scheißgut, dachte Linda. Deshalb sah sie lieber Kjersti dabei zu, wie sie die Kanne aus der Kaffeemaschine zog. Zu Hause war ihr in der Hektik noch ein Missgeschick passiert. Sie hatte vergessen, den Deckel auf die Kaffeemühle zu stecken. Als sie sie dann einschaltete, waren ihr alle Bohnen um die Ohren geflogen. Sogar in der Blumenerde auf dem Fensterbrett waren sie gelandet. Noch auf dem Weg hierher hatte Linda drei Bohnen aus ihren Haaren gezupft. Ihr Kunstlehrer Ludde beklagte oft, sie sei egoistisch und mache sich keine Gedanken darüber, was um sie herum vorgehe. Papa hielt Ludde für einen Stümper. Wenn ein Künstler eines nicht sein dürfte, meinte Papa, dann sozial und umsichtig. Ihre »Erlebnisse« zeigten nur, wie sehr sie sich auf das Wesentliche konzentriere, klar, dass dabei das Unwesentliche litt. Wenn Papa heute vor ihr nach Hause kam und die Küche sah, dann würde er sich bestimmt auf Luddes Seite stellen, dachte Linda, als die Tür aufgestoßen wurde.
Drei Personen schlurften herein und entledigten sich wie in alter Gewohnheit ihrer Taschen und Jacken. Die Frau mit den schwarzen Haaren steuerte direkt auf einen Arbeitsplatz zu und betrachtete ein Bild. Sie schaut, was sie gestern gemacht hat, dachte Linda. Das tat sie selbst auch immer am Morgen. Natürlich nicht schon um neun Uhr. Kjersti hatte inzwischen Tassen und zwei Thermoskannen auf den Tisch gestellt. Die anderen beiden, ein Mann und eine Frau, waren ganz und gar mit sich selbst beschäftigt. Sie waren alle zwischen zwanzig und dreißig. Der Mann schüttelte über einer Wanne mit Unrat Werbebeilagen aus seiner Zeitung. Dann kam er an den Tisch und stellte sich als Paul vor, wobei er den Namen englisch aussprach. Seine Locken schimmerten ein wenig orange. Er stellte auch die andere Frau, die auf dem Weg von der Tür bis zum Tisch in ihrer Tasche nach etwas kramte und kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen schien, als Lucie vor. Sie nickte nur, als Paul ihren Namen erwähnte, und dann hatte sie endlich die Zigaretten und das Feuerzeug gefunden.
»Die andere heißt Amelie Berglind«, murmelte Paul und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. Die Frau ging immer noch vor ihren Staffeleien auf und ab. Die harten Absätze ihrer Schuhe hämmerten durch den Raum. Nach einer Minute trat sie zum Tisch.
»Linda,
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