Die Familie ohne Namen
allzulange warten lassen. Der Pathe und die Pathin waren zur Stelle, jetzt hieß es aufbrechen.
»Vorwärts! Vorwärts! rief Catherine, scheltend und anordnend von Einem zum Anderen laufend. Vorwärts, mein Sohn, sagte sie zu Johann, Fräulein Clary den Arm angeboten! Und Thomas?… Wo steckt der Thomas?… Wo steckt denn Thomas… Er wird doch niemals fertig! – Thomas!…
– Da bin ich, Frau!
– Du wirst das Püppchen tragen.
– Natürlich.
– Und lass’ mirs nicht fallen!…
– Keine Angst, ich habe schon fünfundzwanzig zum Herrn Pfarrer getragen und habe genug Uebung…
– Schon gut! versetzte Catherine, ihm das Wort abschneidend. Nun vorwärts!«
Der Zug verließ die Farm in folgender Ordnung: an der Spitze Thomas, der den Säugling in den Armen hielt, und Catherine Harcher unmittelbar neben ihm; Herr de Vaudreuil, seine Tochter und Johann gleich nach ihnen; hinter diesen aber der lange Schweif der Familie aus drei Generationen bestehend, wo die Altersstufen der Einzelnen so vermengt waren, daß das jüngste geborene Baby unter den Kindern seiner Brüder und Schwestern schon eine Anzahl Neffen und Nichten hatte, welche älter waren als dieses selbst.
Die Witterung war schön; zu dieser Jahreszeit wäre die Luftwärme aber schon eine recht niedrige gewesen, wenn von dem wolkenlosen Himmel nicht ein wahrer Ueberfluß an Sonne herabstrahlte. So wand sich die Gesellschaft unter den Baumkronen und über die geschlängelten Waldpfade hin, an deren Ende der Glockenthurm der kleinen Kirche hervorragte. Ein Teppich von trocknen Blättern bedeckte den Boden. Alle gelben Schattirungen des Herbstes vermischten sich in den Gipfeln der Kastanienbäume, der Birken, Eichen, Buchen und Zitterpappeln, deren Zweigskelett sich da und dort scharf vom Himmelsblau abhob, während die Fichten und Tannen noch ihren grünen Helmbusch trugen.
Mit dem Fortschreiten des kleinen Zuges schlossen sich mehrere Freunde Thomas Harcher’s, Farmer aus der Nachbarschaft, demselben unterwegs an. Die Zahl der Theilnehmer an jenem wuchs so zusehends, daß sie beim Eintreffen in der Kirche wohl an hundert betrug.
Sogar völlig Fremde, welche aus Neugier, oder weil sie eben nichts zu thun hatten, gekommen waren, reihten sich dem Zuge ein, wenn sie zufällig dessen Weg kreuzten.
Pierre Harcher bemerkte unter andern auch einen Mann, dessen Haltung ihm etwas verdächtig erschien. Offenbar war dieser Unbekannte nicht aus dem Lande hier. Pierre hatte ihn noch niemals gesehen, und es machte sein Erscheinen auf ihn den Eindruck, als suche er die Bewohner der Farm scharf ins Auge zu fassen!
Pierre hatte ganz Recht, diesem Manne zu mißtrauen. Es war einer der Polizisten, welche den Auftrag erhalten hatten, Herrn de Vaudreuil, seit dieser die Villa Montcalm verlassen, auf den Fersen zu bleiben. Rip, der sich auf der Fährte Johanns ohne Namen befand, welch’ Letzteren man in der Gegend von Montreal versteckt glaubte, hatte jenen Agenten mit dem Mandate versehen, nicht nur Herrn de Vaudreuil, sondern auch die Familie Thomas Harcher’s, dessen reformistische Anschauungen bekannt waren, zu beobachten.
Während sie so dicht neben einander hergingen, unterhielten sich Herr de Vaudreuil, seine Tochter und Johann von der Verzögerung, welcher dieser auf dem Rückwege nach der Farm erlitten hatte.
»Von Pierre Harcher hatte ich erfahren, sagte Clary, daß Sie sich seiner Zeit von ihm trennten, um Chambly und die benachbarten Kirchspiele zu besuchen.
– Ganz richtig, antwortete Johany.
– Kommen Sie jetzt direct von Chambly?
– Nein, ich mußte durch die Grafschaft Hyazinthe wandern, von wo aus ich nicht so schnell, wie ich wünschte, zurückkehren konnte. Ich sah mich gezwungen, einen Umweg jenseits der Grenze einzuschlagen.
– Befanden sich denn Polizeiagenten auf Ihrer Spur? fragte Herr de Vaudreuil.
– Ja, bestätigte Johann, doch gelang es mir ohne große Mühe, sie noch einmal hinters Licht zu führen.
– Jede Stunde Ihres Lebens ist doch eine Gefahr! bemerkte Fräulein de Vaudreuil. Es gibt keinen Augenblick, wo Ihre Freunde nicht für Sie zitterten! Seit Ihrem Aufbruch aus der Villa Montcalm haben wir uns unausgesetzt um Sie beunruhigt.
– Auch ich, entgegnete Johann, bin es nun überdrüssig, ein Leben zu führen, das ich mir immer nur erkämpfen muß; mich drängt es, im vollen Licht des Tages zu handeln, dem Feinde Auge in Auge gegenüber zu treten. Ja, es ist nun hohe Zeit, daß der Kampf beginnt, und das wird nicht
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