Die Familie: Roman (German Edition)
benutzt. Siehst du die Klamotten? Es müssen mindestens zwei Männer im Boot gewesen sein. Und diese Frauen.«
»Und Darcy«, murmelte Chris. »Sie wird bei ihnen gewesen sein.«
»Vielleicht auch nicht.«
»Sie ist die Führerin.«
»Sie könnte auch zurückgeblieben sein. Aber selbst wenn sie bei ihnen war … Wem auch immer die anderen Kleider gehören, er muss davongekommen sein. Wahrscheinlich sind auch noch andere entkommen.« Er hob die Laterne von dem Sitz. »Es könnte sogar die ganze Gruppe hier gewesen sein.«
»Dafür hätten sie zwei Boote gebraucht.«
»Tja, das andere Boot scheint nicht in der Nähe zu sein. Vielleicht sind die Übrigen damit geflüchtet.«
»Vielleicht.« Chris klang nicht überzeugt.
»Ich frage mich, wo die Ruder sind«, sagte Hank.
»Es gibt keine«, erklärte Chris. »Die Tropfsteine an den Wänden. Als ich gestern die Führung mitgemacht habe, ist Darcy aufgestanden und … hat das Boot von Tropfstein zu Tropfstein gezogen.«
»Seltsam.«
»So machen sie es immer.«
»Warum kletterst du nicht ins Boot? Ich kann dich schieben.«
»Meinst du nicht …? Laufen geht schneller.«
»Wahrscheinlich, aber …«
»Wir sollten uns beeilen.«
»Ja.«
Sie gingen dicht am Boot vorbei, damit Chris nicht in die Nähe der Leichen kam. Hank hätte gern einen Blick auf sie geworfen, um festzustellen, wie sie getötet worden waren, doch Chris zuliebe verzichtete er darauf. Außerdem hatte sie recht. Sie mussten sich beeilen. Es konnte auf jede Sekunde ankommen.
Er war sich sicher, dass jemand durch das Loch in Elys Mauer gekommen war und mindestens drei der Leute, die sich mit dem Boot genähert hatten, umgebracht hatte.
Vielleicht jemand, der mit dem Mädchen, das er getötet hatte, in dem seltsamen Nest gelebt hatte.
Er dachte daran, wie sie ihn grundlos angegriffen hatte. Mit einer Waffe aus Knochen und Rasierklingen.
Er dachte an ihre Zähne, die spitz zugefeilt worden waren.
Eine Art Wilde.
Was zum Teufel hat sie da gemacht?
Wohnten an diesem Ort noch andere?
War einer von ihnen für die schreckliche Zurschaustellung der menschlichen Überreste verantwortlich, die sie entlang des Flussbetts gefunden hatten?
Wie viele sind es?
Wo sind sie jetzt?
Er hörte nur seine und Chris’ Atemgeräusche, das leise Gurgeln und Gurren des Babys, das Plätschern ihrer Bewegungen im See.
Er wünschte, er würde etwas anderes hören.
Wilde, die aus der Dunkelheit auf sie zukamen.
Sollten sie doch angreifen.
Dann wüsste ich wenigstens, dass sie hier sind und nicht irgendwo Paula nachjagen.
»Ich habe Angst, Hank.«
»Ja, ich auch.« Er legte eine Hand auf ihren Rücken.
»Was, wenn Darcy und Paula …?«
»Ich bin sicher, dass es ihnen gut geht.« Klar, dachte er. Das Einzige, dessen er sich sicher war, war seine Hoffnung. Er wusste, dass Hoffnung nicht ausreichte. Man hoffte das Beste, man hoffte, dass das Schlimmste nicht eintrat, doch er hatte während zweier Einsätze in Vietnam gelernt, dass das Schlimmste geschehen konnte und manchmal sogar die Grenzen dessen überschritt, was man sich ausgemalt hatte, und in den dunklen Bereich des Unvorstellbaren hineinreichte.
Doch Hoffnung war alles, was er hatte, deshalb klammerte er sich daran.
»Selbst wenn sie hier waren«, sagte er, »bedeutet das nicht … Wie viele Leute waren bei der Führung?«
»Dreißig oder vierzig, schätze ich.«
»So viele können nicht … Wir haben erst drei Leichen gesehen.«
»Bis jetzt«, sagte Chris.
Nur Sekunden später, als sollte ihre Hoffnung zunichtegemacht werden, fanden sie eine weitere Leiche. Chris sah sie zuerst, keuchte und zuckte zurück.
Diese Leiche schwamm nicht. Sie trieb mit ausgestreckten Armen einen halben Meter unter der Oberfläche. Wie bei den beiden Frauen war das lange Haar ausgebreitet und schwebte um den Kopf herum wie seltsamer Seetang.
»Ein Mann«, sagte Hank. Er trat vor Chris, griff ins Wasser und packte das Haar. Es fühlte sich dick und fettig an. Er zog daran. Der Kopf hob sich tropfend aus dem Wasser, und Hank drehte das Gesicht zu sich.
Ein Blick, und er wusste, dass dieser Mann nicht zur Führung gehörte.
Buschige Augenbrauen. Ein dichter schwarzer Bart. Die Haut so weiß, als wäre sie nie mit Sonnenlicht in Berührung gekommen. Spitz gefeilte Zähne.
Als Hank ein kleiner Junge gewesen war, hatte ihm sein Vater manchmal mit Geschichten vom Wilden Mann von Borneo Angst eingejagt. Er hatte es gemocht und ihn angefleht, mehr zu erzählen, obwohl
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