Die Familie: Roman (German Edition)
kroch er zum Rand des Stegs und streckte die Hände nach unten. Chris reichte ihm das Baby. Aus den langsamen Atemgeräuschen schloss er, dass es schlief. Er wunderte sich, dass es in einer solchen Situation schlafen konnte.
Glückliches Kind, dachte er. Es hat nicht die leiseste Ahnung, was sich hier abspielt.
Wahrscheinlich hält es Chris für seine Mutter.
Chris stemmte sich hoch und kroch auf den Steg. Sie sah die Leiche an. Sie schniefte und wischte sich über die Augen. »Warum hast du sie bedeckt?«
»Sie wurde … zum Teil aufgefressen.«
»Sie haben sie gefressen? «
»Sie müssen eine Weile an ihr gearbeitet haben. Und ich glaube … es fehlt zu viel, als dass es nur einer gewesen sein kann. Ich schätze, es waren mehrere.«
»O Gott.«
»Auf eine gewisse Art haben sich die Aussichten verbessert.«
»Wie kannst du so was sagen? Sie …«
»Dieser Mann auf der anderen Seite der Mauer – er ist noch nicht lange tot. Höchstens eine Stunde. Dann hat hier im See ein Kampf stattgefunden. Das hat seine Zeit gedauert. Die Schweine sind den Überlebenden nicht sofort gefolgt. (Wenn es Überlebende gab, dachte er.) Sie sind eine Weile hiergeblieben und haben sich eine Mahlzeit gegönnt. Also haben sie wahrscheinlich keinen großen Vorsprung vor uns.«
»Glaubst du, wir haben eine Chance, sie einzuholen?«
»Könnte sein«, sagte er, obwohl er es kaum zu hoffen wagte.
Er nahm die Laterne. Sie standen auf und gingen schnell über den Steg.
»Wir haben noch einen anderen Vorteil«, sagte Hank. »Sie haben im Gegensatz zu uns wahrscheinlich kein Licht. Deshalb kommen sie nicht so schnell voran wie …«
Er verstummte.
Aus der Dunkelheit vor ihnen drang das entfernte Schreien und Kreischen menschlicher Stimmen.
Wir kommen zu spät!
Darcy trabte durch die Dunkelheit, eine Hand auf Gregs nackter Schulter, während die andere über den Metalllauf des Geländers glitt.
Der Gürtel um ihre Taille begann zu verrutschen. Ehe sie den Bootssteg verlassen hatten, hatte Greg das gefaltete Taschentuch mit dem Gürtel über der Wunde befestigt. Sie beklagte sich, der improvisierte Verband würde zu viel Zeit kosten, doch er bestand darauf.
»Wenn du so viel Blut verlierst, wirst du mir noch ohnmächtig«, erklärte er. »Das würde uns noch länger aufhalten, weil ich dich dann nämlich tragen müsste.«
»Es blutet nicht so stark.«
»Wir gehen nirgendwo hin, bevor ich dich verbunden habe.«
»Okay«, sagte sie.
Und so öffnete Darcy in der völligen Dunkelheit auf dem Steg ihren Anorak und zog den Gürtel aus. Sie zerrte ihr durchnässtes Taschentuch aus der Hosentasche und gab es Greg. Sie spürte, wie seine Finger forschend über ihre Haut strichen. Als er den Rand der Wunde berührte, zuckte sie zusammen.
»Wir haben schon so viel Zeit verloren«, flüsterte sie.
»Ein paar Minuten machen nicht viel aus.«
»Ein paar Minuten können entscheidend sein.«
»Begreif doch endlich, Darcy, wir werden sie nicht einholen.« Er legte das Taschentuch auf die Wunde. »Halt mal.« Sie gehorchte und reichte ihm den Gürtel. »Ihr Vorsprung ist zu groß«, sagte er. »Sie werden die anderen erreichen, ehe wir die Hälfte der Strecke zurückgelegt haben. Und wenn sie merken, mit wie vielen sie sich anlegen müssten, werden sie wahrscheinlich überhaupt nicht angreifen. Vielleicht beobachten sie sie eine Weile, oder sie kehren um. Und rennen uns in die Arme.«
»Wir müssen ihnen folgen.«
»Ich weiß.«
»Es sind schon so viele gestorben.«
Der Gürtel legte sich knapp unterhalb der Brüste um ihren Oberkörper. Greg berührte ihre Finger. »Hab es«, flüsterte er. Dann zog er den Gürtel stramm. Er schloss sich um sie wie ein Druckverband, und sie atmete scharf ein, als er auf das offene Fleisch drückte. »Wenn er zu locker ist, bringt es nichts.«
Darcy nickte, doch dann wurde ihr klar, wie nutzlos das in der völligen Dunkelheit war. »Schon okay.«
Sie tastete nach ihm, fand seine Schultern und zog ihn an sich. Nach einem Augenblick wurde seine kalte Haut warm, wo sie ihre Brust und ihren Bauch berührte. Sie spürte das Heben und Senken seines Brustkorbs und das Schlagen seines Herzens.
Greg streichelte ihr Haar.
Wenn wir gehen, dachte Darcy, könnte er getötet werden.
»Falls wir die Wilden nicht einholen können«, sagte sie, während sie ihn in den Armen hielt, »können wir zumindest rufen und die anderen warnen, dass sie kommen. Wenn wir auch dafür zu spät dran sind, können wir in den Kampf
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