Die Familie Willy Brandt (German Edition)
oder die Melodien der anderen zu hören.
Im Herbst 1972 ist diese Jukebox tatsächlich kaputt, der Arzt hat den Stecker gezogen. Man kann sich diese Situation gar nicht absurd genug vorstellen. Der Kanzler hat bei der Bundestagswahl 1972 einen triumphalen Wahlsieg errungen, und dennoch geht’s bergab. Das historisch gute Wahlergebnis für die SPD benebelte manchen in der Partei, verführte zu Disziplinlosigkeiten, ruinierte den Teamgedanken, und anstatt es dem Kandidaten Brandt zu danken, wie glänzend man plötzlich dastand, begann man aus Eigeninteressen, seine Autorität zu demontieren. Das unaufhörliche Sprechen und Werben hat Brandts Stimme ruiniert, er fürchtet, an Krebs erkrankt zu sein, eine Geschwulst an der Grenze zur Bösartigkeit wird von den Stimmbändern entfernt, Brandt liegt im Krankenhaus und hat Sprechverbot. Rut kommt zweimal am Tag, flüstert ihm etwas zu, er flüstert zurück, aber – der behandelnde Arzt achtet streng darauf – nur wenige Worte. Nichts Bedrohlicheres gibt es für einen Politiker, als seine Stimme zu verlieren. Stimme ist Macht, Präsenz, Einfluss, Kontrolle. Brandt hingegen ist stumm, ausgeschaltet, ausgerechnet während der Koalitionsverhandlungen mit der FDP, die Weichen, auf denen er in den nächsten anderthalb Jahren abwärtsfahren wird, werden jetzt ohne ihn gestellt. Herbert Wehner und Helmut Schmidt, die Weichensteller, sind im Vollbesitz ihrer Stimmen und sprechen so laut, dass Brandts Flüstern nicht ankommt.
In seinen Erinnerungen »Komplettes Stückwerk« hat Erhard Eppler das Paradoxon des stimmlosen Siegers, des tragischen Triumphators in einer eindrucksvollen Szene festgehalten: »Nie vergesse ich das Bild des siegreichen Kanzlers, den ich in der Residenz des Außenministers auf dem Venusberg erlebte: Steif wie eine Statue in einem Sessel mit hoher Lehne sitzend, das starre Gesicht über der weißen Halskrause, in welche die Ärzte ihn gezwängt hatten, konnte er sich nur flüsternd verständlich machen. Um ihn war eine Aura der Einsamkeit, ja der Tragik. (…) In diesem Gesicht eines Leidenden war mehr vom Tod als vom Triumph zu lesen.«
Zu Brandts Stimme gehörte der Rauch, die Zigarette als Begleitschutz. Das strenge Rauchverbot raubt dem Mann einen Teil seiner Persönlichkeit. Später wird Brandt sagen und es wirklich so meinen, er hätte nicht als Bundeskanzler zurücktreten müssen, wenn er Raucher hätte bleiben dürfen. In diesen Wochen und Monaten des unaufhörlichen Missvergnügens, im Winter 1972, bekommt Willy Brandt Besuch von zwei Grenzgängern: Dieter Lattmann und Rudolf Augstein. Der Schriftsteller Lattmann (SPD) und der Publizist Augstein (FDP) versuchen sich als Bundestagsabgeordnete. In seiner lesenswerten Autobiographie »Einigkeit der Einzelgänger« beschreibt Lattmann, wie er eines Abends zusammen mit Augstein hinauf zum Venusberg fährt und den Kanzler besucht. Es ist ein irritierender Eindruck: »Wir passierten die Wache und standen nach einem kurzen Wegstück vor der Tür. Rut Brandt empfing uns freundlich, schlank im langen Kleid. Von Anfang an hatte ich den Eindruck, sie war an diesem Abend die einzige mit sich übereinstimmende Person. Der Hausherr schien mir hinter einer außenministerhaften Haltung nicht wirklich anwesend zu sein. Natürlich hatte ich mich über diese Einladung gefreut. Nur war mir die Erfahrung neu, wie distanziert Brandt sein konnte, selbst gegenüber Menschen, die er früher schon manches Mal ins Vertrauen gezogen hatte. Er fragte uns nur, was er ohnehin wusste. Es war kein Gespräch, sondern eine Visite. Natürlich klang nach diesem gewaltigen Wahlsieg auch etwas von unserer Zuversicht an und von der akuten Ausweglosigkeit der Opposition.
Mir war die ganze Zeit, als schwebe ein Schatten durch den Raum. Ich stellte mir vor, wie viele Probleme in diesem Augenblick auf ihm lasten mussten, und ich fragte mich: Warum hat er uns herbestellt? Da saß ich dem einzigen Politiker gegenüber, den ich verehrte, und fühlte mich fehl am Platz. Bei Wein und einem Imbiss liefen auch zwischen ihm und Augstein nur eingespielte Gesprächsriten hin und her. Rut Brandt wartete mit einigen Streichen der Söhne auf, selbst das erhellte nur kurz die Szene. Aber sie blieb souverän bis zum Schluss, den ich nur noch herbeisehnte, und sie war es auch, die uns wieder verabschiedete, der Kanzler hatte sich schon zurückgezogen.«
Die Szene zeigt Rut Brandt an einer Schnittstelle ihres Lebens, wo kaum zwischen dem geschäftlichen
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