Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Illustrierten »Quick« sie 1970 fragt, was sie denn an ihrem Mann störe, antwortet sie: »Er bleibt immer so schrecklich gelassen. Ich kann ihn nie aus der Fassung bringen. Es ist manchmal, als ob ich zu einem Stein spreche. Wenn ich ihm beispielsweise sage, die Rede, die du heute gehalten hast, war mies – wir kritisieren nämlich seine Reden, weil die anderen ihm doch nie die Wahrheit sagen –, dann wird er nicht ärgerlich oder wütend, er prüft, woran das liegen könnte. Er bleibt stets die Ruhe und Gleichmut in Person.« So loyal diese Aussage ist, so liberal, so scheinbar modern, offenherzig und frei weg von der Leber – die emanzipierte Frau wäscht ihrem Mann, dem Kanzler, den Kopf –, so viel verschlucktes und eben nicht zustande gekommenes Gespräch, so viel taubes Empfinden steckt doch auch darin. Der ist ein Stein, oder er steckt im Stein, und die Frau kann reden, wie sie will, er bleibt im Stein stecken. Wie sprengt man den? Sprengstoff?
St. Martin-Umzug, Willy Brandt, vor ihm Sybille Ahlers und Sohn Matthias, Bonn 1969
[Sybille Ahlers]
Am Abend des 19. November 1972 sitzen Rut und Willy Brandt im Herrenzimmer. Es ist der Tag der Bundestagswahl. Alle sind erschöpft. Alle Kraftreserven aufgebraucht. Ein paar Journalisten, ein paar Mitarbeiter sind zugegen. Die Kinder haben sich oben im Haus verteilt. Peter ist mit seiner Freundin Maria Jänicke aus Berlin angereist. Immerhin: heute ist ein historischer Tag. Wird die sozialliberale Koalition ihre Ost- und Reformpolitik fortsetzen können, oder ist Brandt gescheitert? Ein unmenschlicher Wahlkampf, der nicht nur den Protagonisten, sondern auch den Familien alles abverlangt hatte. Schon im Sommer des Jahres war Brandt in eine tiefe Krise abgestürzt. Wollte das Zimmer nicht verlassen: Hinschmeißen. Alles Arschlöcher! Schmidt, Wehner, diese Wichtigtuer! Er solle führen! Autorität zeigen! Die Fraktion will geprügelt werden!
Rut, die solche Stimmungen schon lange kennt, ist doch erschüttert, denn sonst rutscht ihr Mann verlässlich im Winter in solche Abgründe. Jetzt schon im Sommer? Das war höchst untypisch. Weinend rief sie Egon Bahr an, der Einzige, der jetzt noch kommen durfte, denn selbst Horst Ehmke, der sonst das Amt des Wachrüttlers ausübte, ging dem Kanzler gerade unerhört auf die Nerven mit seiner supervirilen Agilität. Gegenüber Bahr bekannte Brandt: »Ich bin gescheitert mit meiner Art, die eben keine Befehle erteilt und Menschen wie Menschen behandelt!« Brandt will zurücktreten, aber es gelingt Bahr, den Freund aufzubauen. Brandt hält durch, geht auf die lange Wahlkampfreise zum historischen Sieg. Als die Schlachten dieses Jahres geschlagen sind und die ersten Hochrechnungen eintreffen – Brandt nimmt sie im Herrenzimmer telefonisch entgegen –, als sich die Gewissheit einstellt, dass ihm diese Wahl ein triumphales Ergebnis beschert, das beste der SPD-Geschichte, als klar wird, dass die Menschen ihm und seiner Politik vertrauen, bleibt Brandt unbewegt wie ein Stein. Warum, fragt sich wohl seine Frau, sind denn jetzt alle so beklommen? Haben wir nicht gewonnen? Es ist Rut, die die Stimmung mit einer jener Bemerkungen rettet, in denen sich noch Scherz und schon Verzweiflung mischen: »Wenn das so weitergeht, schmeiße ich eine Tränengasbombe! Dann können wir alle weinen.«
Was macht eine Frau, die die meiste Zeit ihres Lebens auf ihren Mann warten muss, die ihn mitunter häufiger im Fernsehen als im eigenen Heim sieht? Sie sucht sich Freundinnen, die ähnliche Erfahrungen machen. Dorothea Bahr, Mildred Scheel und Heilwig Ahlers, die Frau des Regierungssprechers Conrad Ahlers. Heilwig Ahlers wird in den siebziger Jahren die beste Freundin von Rut. Eine andere Freundin von Rut Brandt, die mich an diesem Punkt bat, ihren Namen nicht zu nennen, meinte, Heilwig Ahlers habe die »böseste Zunge der Stadt« gehabt. Was ist damit gemeint? Kann damit vielleicht auch die wehrhafteste Zunge gemeint sein? Bonn war, in politischen Kreisen, ein klatschsüchtiges Nest, weil sich im Klatsch Herrschaftswissen, intime Gerüchte, politische Botschaften und delikate Intimitäten mischten. Wer mit wem und warum, ist erkrankt an, legt sich dort schlafen, kassiert hier ein Sümmchen, die grüßen sich nicht mehr, ist stocktaub, hat angebandelt, macht die Tasche auf, will nur zu diesen Bedingungen, alter Nazi, leidet an Gehirnerweichung, ist bettelarm, hält ihn aus. Wo man selbst zur Zielscheibe wird, setzt man sich züngelnd zur
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