Die Familie Willy Brandt (German Edition)
vorlebt, für sie ist Literatur nicht Wissensstoff, sondern unentbehrliches Elixier, fürsorgliches und beschützendes Vademecum. Lars lernt bald ihren Mann Fritz Berneis kennen, ein origineller, hochgebildeter Kopf, ein Lyriker und Maler gegenstandsloser Bilder, der sich dem Kunstbetrieb systematisch entzogen, ja verweigert hat. Nach einigen Ausstellungen in den frühen fünfziger Jahren zog es ihn in einen Innen- und Ichraum, der ihm unüberschaubar genug schien, wozu da noch ablenkender, entfremdender Betrieb? Er konnte sich von seinen Bildern nur äußerst schwer trennen, begriff sie als unvollendet, noch im Prozess befindlich, legte da Hand und Auge an, ließ die Zeit über die Leinwand streichen und vermutete hier, im Dialog mit dem Künstler, noch Möglichkeiten, die draußen wegfielen.
Frau Berneis, die in der nationalsozialistischen Terminologie als »Halbjüdin« galt, hatte das »Dritte Reich« überlebt; die Widerständigkeit dieses Paares, ihre weitgefächerten Interessen, ihr künstlerischer Alltag, all das zog Lars Brandt an. Das Sonderliche und Abseitige war ihm allemal sympathischer als all die Helden des Mittelwegs. Das Leben der Boheme begann ihn zu faszinieren, Bürgerlichkeit als Lebensform war nur da interessant, wo sie dekadente Ränder streifte, wo sie den Keim des Morbiden in sich trug, wo sie abgründig war. Thomas Manns befestigte, aber eben auch schatten- und halbschattenreiche Bürgerlichkeit war spannend, mit all ihren verdrängten und verborgenen Seiten. Das, was auf den ersten Blick unverdaulich war, schwer zugänglich, zog Lars an. Kaum bekannte Autoren wie der österreichische Schriftsteller Fritz von Herzmanovsky-Orlando weckten sein Interesse, weil sie querstanden zu den üblichen literarischen Einordnungsversuchen. Was auf dessen Grabstein stand, »Wer sein eigener Herr sein kann, soll nicht einem anderen gehören«, könnte man auch als Leitspruch von Fritz Berneis und Lars Brandt auffassen. Auch dass Herzmanovsky-Orlando schrieb und zeichnete, also einem künstlerischen Doppelweg folgte, reizte ihn, da er ebenfalls versuchte, auf beiden Bahnen vorwärtszukommen und sich auszudrücken. In den frühen achtziger Jahren tauschte er sogar sein VW-Cabriolet gegen eine Buntstiftzeichnung von Herzmanovsky-Orlando, für ihn ein glänzendes Geschäft, weil er sich in der Gesellschaft von Außenseitern nie an den Rand gedrängt, sondern eher auf die Innenseite des Lebens versetzt fühlte.
Was Lars dem Sprechen und Schreiben des Vaters ablauschte, was ihn anzog, war die Komplexität der politischen Rede, die einem anderen Machtbegriff gehorchte als die literarische Sprache, die die Wirklichkeit nach Herzenslust verbiegen und umformen, die alles bestreiten und abstreiten konnte. Dahingegen musste die politische Rede die Wirklichkeit integrieren, sich ihrer wirklichkeitsschaffenden Gewalt bewusst sein und mit äußerster Vorsicht Spielräume erkunden. In den achtziger Jahren lieferte Lars regelmäßig Beiträge zu den Reden seines Vaters, insbesondere kulturelle Bausteine, Thomas-Mann-Zitate, aber auch viele Einsichten und Gedanken zur Geschichte des »Dritten Reiches«, die Lars in besonderer Weise umtrieb. In Heli Ihlefelds Rut-Brandt-Manuskript räumte Lars auch bereitwillig ein, sein Vater habe ihn dafür sensibilisiert, »dass die Ansatzpunkte, die man wählt, um etwas Bestimmtes zu erreichen, oft die ganz falschen sind. Dass es nicht darum geht, Personen zu treffen oder zu entmachten, sondern dass es um die Sprache geht und man von der Person etwas absehen muss.«
Willy Brandt war sich – und das gefiel dem Sohn – wie kaum ein anderer Politiker bewusst, dass politische Sprache eine Gewalt, eine Handlung ist, die erst im Akt des Sprechens Wirklichkeit schafft. Das konnte gefährlich sein, weil die politische Sprache bestimmte Dinge antizipierte und die Wirklichkeit dann zusehen konnte, wie sie mit dem Umstand, gerade erst geschaffen worden zu sein, zurechtkam. Oder umgekehrt, die Sprache wurde von der Wirklichkeit blamiert, weil diese so unerschütterlich fest und träge allem Sprechen widerstand und dem politischen Sprechen seine Grenzen aufzeigte. Brandt wusste, dass da draußen, in dem Gebiet, das man Wirklichkeit nennt, eine Vielzahl von Optionen und Wegen bereitsteht, die der Politiker mit seiner Rede vernichten, aber auch entdecken kann. Das Hin- und Her-Rudern seines Sprechens, sein Lavieren zwischen dem Einerseits und dem Andererseits ist auch durch seine Sensibilität
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