Die Familie Willy Brandt (German Edition)
für den widerspruchsvollen Reichtum da draußen begründet. Für solche diffizilen Manöver war Lars empfänglich, weil er in diesen gedankenreichen Gratwanderungen seinen Vater fand, der beim stockenden Sprechen Erkundungen einzog, mit welchen Worten man am besten vorankam in einer Welt aus Widersprüchen.
Rut Brandt hingegen fühlte sich von solchen Bedenklichkeiten, diesen auch sprachlichen Idiosynkrasien, diesem In-sich-Brüten und -Bohren eher zurückgestoßen, sie forderte eine deutlichere und weniger umständliche Sprache ein. Mit den Jahren entfernte sich Lars von ihr, kehrte seltener zu ihr zurück als die anderen Söhne, verlor das Interesse an dieser Art von Leben, das nicht konsequent die verschlungeneren Pfade wählte. Diese Differenzen deuten sich auf dem Venusberg schon an, als Lars mit Blick auf das Interieur feststellt: »Die Vorstellungen meiner Mutter von Geschmack widersprechen meinen Vorstellungen. Ich kann es nicht haben, in einer geschmackvollen Umgebung zu leben, die mir eine heile Welt vorspiegelt.« Mit dem Vater verband Lars auch das nächtliche Vagabundieren am Schreibtisch, der antibürgerliche, künstlerische Lebensrhythmus. Er arbeitete nachts und schlief am Tag. Wenn es hell geworden war und sich alle aus den Betten quälten, zog er die Decke über den Kopf und legte sich schlafen. Nein, er schlief nicht länger als die anderen, aber er suchte sich zum Abtauchen lieber die fade Tageszeit aus, denn die Nacht war allemal das interessantere Experimentierfeld.
Rut Brandt taucht im Erinnerungsbuch ihres Sohnes Lars kaum auf. Eine Stelle fällt ins Auge: Vater und Sohn treffen sich zur mitternächtlichen Stunde in der Küche am Kühlschrank. Beide sind Nachtmenschen, Brandt frisst sich durch Akten, Lars zeichnet. Als sie sich am Kühlschrank treffen, ist es so, als ob sie aus ganz unterschiedlichen Welten auftauchen. Sie beginnen zu plaudern, berichten einander. Diese unvermutete, aber eben auch selbstverständliche Begegnung muss für den Sohn ein kostbarer Moment gewesen sein, wenn er sich fast 40 Jahre später an ihn erinnert. Doch die nächtliche Intimität wird unterbrochen: »Meine Mutter war im Schlaf gestört worden und konnte unserem nächtlichen Treffen nichts abgewinnen.« Bis auf diese Szene bleibt Rut Brandt ausgespart, das ist nicht unbedingt ein Indiz für schroffe Differenzen, sondern eher für Distanzen. Auch Matthias und Peter bleiben in »Andenken« nur Schemen, kaum lebhaft überlieferte Figuren. Diese Randstellung leuchtet aber wiederum ein, weil das Buch ja dem Vater gilt, dieses »Andenken«, das ja festgehalten werden muss, weil nicht nur die Zeit, sondern all die vielen anderen Zeitzeugen und Willy-Brandt-Andenkenbewahrer dem Sohn die eigene Geschichte bestreiten. Ihre Andenken sind nicht seine Andenken, und indem der Sohn sich der Vater-Sohn-Geschichte bemächtigt, zieht er auch klare Grenzen gegenüber den fremden Andenkenjägern, die dem Sohn nicht selten erklären wollen, sie wüssten um den Vater besser Bescheid als er selbst. »Wussten Sie eigentlich, dass …?« Diesen Beutemachern sind natürlich auch Peter und Matthias unentwegt ausgesetzt, die ihre eigenen Strategien entwickelt haben, ihre Vater-Sohn-Geschichte zu retten. Wem gehört ein Mann wie Willy Brandt?
Es ist ein langer Weg vom Venusberg, von der Adresse Kiefernweg 12 bis nach Lüdenscheid, wo Lars Brandt im März 1985 in der Galerie »Lüdenscheid West« seine erste Einzelausstellung eröffnete. Aber zweifelsohne beginnt dieser künstlerische Weg auf dem Venusberg. Das Studium der Politikwissenschaften und Soziologie, das er schon weit vorangetrieben hat, beendet er nicht. Hat er erkannt, dass der Berufsweg Journalismus nicht der seine ist? Oder hat er für sich entdeckt, dass das Zeichnen und Schreiben der einzige Weg ist, auf dem er keine Zugeständnisse machen muss? Lars Brandt hat diesen Weg mit einiger Konsequenz verfolgt. An einer bürgerlichen Karriere war er nicht interessiert. Dafür war er auch bereit, auf materielle Bequemlichkeiten zu verzichten. Sorglos übers Wasser finanzieller Unabhängigkeit schweben konnte er nicht, aber wie soll man sein Brot erwerben, wenn man streng mit sich ist, wenn man auf seinem Tempo beharrt, wenn man sich nicht geschmeidig dem Markt anpasst? Dieses Talent ist bei Lars Brandt eher schwach ausgeprägt. Wie sein Vorbild Fritz Berneis trennte er sich ungern von seinen Sachen, zeigte sie auch nicht freudig her, war unzufrieden mit sich selbst, hoch die
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