Die Familie Willy Brandt (German Edition)
zuletzt daraus erwuchs das Bedürfnis, sich auch an diesem symbolischen Punkt von Herbert Wehner abzusetzen. Dieses »sich absetzen« kann aber auch schlicht und einfach als räumliche Distanzierung vom Pfeifenmann verstanden werden, denn Brandt verbrachte viel Lebenszeit an Wehners Seite, sitzend, und damit Wehners Dunst, Qualm, seiner psychophysischen Präsenz unmittelbar ausgeliefert. Da ist Brandt sicherlich Konflikt- und Krisenraucher, der Stress abbaut, er zieht aber auch, mit jeder Zigarette, mit jedem Zug, eine Linie zwischen sich und Wehner. An Wehners Seite hüllte sich Brandt oft genug in Rauch, eine Außenhaut und Hülle, die den anderen auf Abstand hielt.
In anderen Kontexten jedoch, in anderen Räumen, an der Seite anderer Partner wird die Zigarette, das Rauchen als männerbündisches Ritual, zum Lagerfeuer, das Gesellschaft stiftet, Gemeinsamkeit, ein intimer Pakt zwischen der Macht (Brandt) und der Meute (die Journalisten). In »Einige Tage im Leben des Willy Brandt« ist eine solche Szene ausführlich zu sehen. Brandt sitzt, am Ende eines langes Tages in Paris, in einer Suite im Hotel Bristol mit den deutschen Auslandskorrespondenten zusammen, resümiert den Besuch, plaudert, erzählt Witze und raucht. Der anfangs leere Aschenbecher füllt sich, das Rauch- und Nebelband – nahezu alle rauchen – legt sich immer dichter um die Männer. Trotz der anwesenden Kamera fühlt sich Brandt sichtlich wohl, kein Last-, eher ein Lusttermin, er ist ungezwungen, der Körper wirkt entspannt, er ist nicht eingezwängt in protokollarische Pflicht und Order. Brandt, der zeit seines Lebens den Journalisten nicht vergaß, der er im Exil war, lässt die Zigarette zum sechsten Finger werden, Zeige- und Mittelfinger wandern zur Schläfe, der Rauch umflort die Stirn, steigt, sinkt, verbrüdert sich mit dem Rauch der anderen. Es ist bereits tief in der Nacht, es geht auf zwei Uhr zu, und Brandt hat keine Eile. Seine Referenten hingegen senden schon seit geraumer Zeit Signale, drängen ihn zunächst sanft, dann stärker: »Es wird Zeit, ins Bett zu gehen!« Und Brandt, die Zigarette in der Hand, meint lächelnd, bedauernd, dass der Abschied naht, »die Brüder wollen noch mal …«, woraufhin sein Referent mit Nachdruck fordert: »Jetzt bin ich diktatorisch, Sie sollen ins Bett gehen«. Der Brüderbund, das Tabakkollegium, löst sich auf, Brandt geht auf sein Zimmer, raucht, schreibt. Gute Nacht!
So wie das Rauchen und das gesellige Reden für Brandt zusammengehören, so untrennbar gehören Rauchen, Schreiben und Lesen zusammen. Ich habe selten einen Menschen gesehen, der die Zigarette so sehr inkorporiert, so sehr zum Teil seines Leibes und seiner fließenden Körperlichkeit gemacht hat wie Brandt. Brandts Söhne sind, im Gegensatz zu ihrem Vater, treulose Raucher, irgendwann in ihrem Leben haben sie dem Rauchen »Adieu!« gesagt, ohne sich gemartert zu fühlen, Peter noch als Jugendlicher, Lars und Matthias später im Leben. Sie haben gern, auch viel geraucht, aber sie konnten es lassen, sie fanden in anderen Beziehungen emotionalen und bergenden Halt. Rut rauchte gern, aus Geselligkeit, kontrollierter Genuss, dem die existentielle Schwere abging.
In seinen späten Jahren wurde Brandt, fürsorglich belagert, zum Schlupflochraucher. Matthias, der mit ihm Anfang der achtziger Jahre gelegentlich in Bonn zum Mittagessen verabredet ist, erlebt einen getriebenen Raucher, der in kurzer Zeit möglichst viel Rauch schlucken will. Im Wagen hält der Fahrer Hans Simon dann ein Mundwässerchen bereit, Kaugummis auch und Lakritz. Falsche Fährten. Peter erzählt mit Behagen die Anekdote, wie sein Vater seinen Halbbruder Günter Kuhlmann in Lübeck besucht und sich für eine Stunde mit ihm in einen stillen Winkel verdrückt, wo sie wie die Wahnsinnigen »aus allen Rohren« rauchen.
Der berühmteste Raucher der Literaturgeschichte heißt Zeno Cosini in Italo Svevos gleichnamigem Roman. Unser Held Zeno, ein etwas müder, antriebsloser Mann, hat tausend Mal versucht, das Rauchen aufzugeben, tausend Mal hat er die letzte Zigarette angezündet, und tausend Mal hat er nach der letzten Zigarette gierig an der nächsten letzten, die nicht die letzte war, gezogen. Vermutlich ist Zeno mit der Zigarette in der Hand gestorben. Was er über das Wesen der letzten Zigarette zu sagen hat, mag auch für Brandt und seine tausend Versuche gelten: »Ich bin überzeugt, dass die Zigarette anders und bedeutsamer schmeckt, wenn sie die letzte sein
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