Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Machtkampf innerhalb der Berliner SPD zu, der traditionelle SPD-Flügel um Franz Neumann bekämpft den Rivalen Brandt mit fairen und vor allem unfairen Mitteln. Brandt ist nervlich und körperlich schwer angeschlagen, hat Herzrasen, raucht wie ein Schlot, schläft nachts schlecht, trinkt zu viel. Er muss raus aus Berlin und fährt für einige Wochen in den Schwarzwald zur Kur, wo er einen erneuten Versuch unternimmt, vom Rauchen loszukommen. Er schreibt seiner Frau am 12. April 1957 aus dem Kurort Höchenschwand: »Es war wohl an der Zeit, dass ich eine Weile aus dem Teufelskreis herausgekommen bin. Aber das ist schon eine Umstellung. [ … ] Bis jetzt habe ich mich an das Rauchverbot gehalten (oder richtiger an den dringenden Rat des Arztes aufzuhören). Am leichtesten war es am ersten Tag, es ist noch immer so, dass ich Lust auf eine Zigarette habe, vor allem nach den Mahlzeiten. Die Tabletten, die ich nehme, mögen wichtig sein, um das Gift aus dem Körper zu bekommen, aber bisher haben sie nichts bewirkt.«
Zu den verlässlichen Kindheitserinnerungen der Brandt-Kinder gehört der in blauen Rauch gehüllte Vater, der am Tisch sitzt und schreibt und dabei qualmend sinnt, nach Worten und Sätzen, nach Ideen und Gedanken sucht. Lars Brandt hat auch die Geräuschkulisse des Rauchens in seinen Erinnerungen abgespeichert, der Kettenraucher Brandt besaß gleichermaßen eine olfaktorische und akustische Präsenz. In seinem Buch »Andenken« hält der Sohn diese doppelte Präsenz fest: »Der Kopf der Tabakpfeife brachte den Aschenbecher nicht mehr zum Klingen, wenn er sie ausschlug. V. rauchte jetzt fast nur noch Zigaretten, in unüberschaubarer Menge, ganze Packungen während zweistündiger Sitzungen, wie er, selber erstaunt, verriet. Später zusätzlich Zigarillos, deren Rauch er ebenso gierig inhalierte. Hatte er sich abends doch einmal seine Pfeife gestopft, um auch ihren dicken Qualm genüsslich tief in die Lunge zu saugen, schepperte es danach nur noch trocken, wenn er sie in seinem Drehaschenbecher leerte.« Tatsächlich hat Brandt etwas getan, was man – das sagen Ärzte und Tabakwarenkundige gleichermaßen – tunlichst vermeiden sollte, aber was ein existentieller Raucher wie Brandt dennoch tat, er inhalierte alles, was ihm zwischen die Lippen kam.
Wer könnte, frage ich mich, den rauchenden Kanzler genau beobachtet haben? Wer hat ein Auge für so etwas? Egon Bahr könnte, will aber nicht vom Zigarettenmann Brandt erzählen. Dennoch war Bahr zu einem Treffen bereit, er erzählt auch sehr nett und zugewandt, davon, wie sich Brandt und er verstanden hätten, wie sie kleinste Körperzeichen zu deuten wussten, wie sie eine nahezu telepathische Verbindung aufgebaut hätten, und wie er den Freund auch heute noch spüre, verstünde, wenn er ihm Fragen vorlege.
»Glauben Sie an Geister, an Seelenwanderungen, Herr Bahr?« Egon Bahr legt den Kopf in den Nacken, lächelt sibyllinisch, bläst Rauch in die Luft. Ich erbitte mir eine seiner Zigaretten (»Marlboro«) und rauche, was ich sonst nie tue. Aber das ist schön, so eine Dunstgemeinschaft, so ein Kokon aus Rauchmeldungen. Fühle mich jetzt nicht wie Willy Brandt, aber man versteht, dass Brandt diesen klugen, taktisch kühlen, aber innerlich so musischen und auch gefühlvollen Mann sehr gemocht hat, es gut mit ihm aushielt, auf ihn zählte, mit ihm unzählige Zigaretten speiste.
Der Chronist der Bundesrepublik, der große Fotograf Josef (Jupp) Darchinger, ist auch ein Mann, der scharf hinsah und Brandt recht nahe kam. Ich besuche ihn in seinem Haus in Bonn. Vom Bahnhof zu Fuß: Zersiedeltes Gebiet, triste Vorstadtkulisse, tosender Autobahnzubringer, Gewerbeflächen, plötzlich Getreidefelder, Stadt ausgefranst. Darchinger, dessen Eltern in Bonn-Endenich Landwirtschaft besaßen, ist hier aufgewachsen. Der große Fotograf hat alle bedeutenden deutschen Politiker ins Auge gefasst, von Adenauer bis Merkel, er hat sie in Szene gesetzt, hat ihnen nachgestellt, ohne ihnen aufzulauern, er hat den historischen Moment gebannt. Er ist mit ihnen um die Welt geflogen (»Brandt hatte Flugangst«), jetzt sitzt er im Wohnzimmer, lässt seinen Kaffee kalt werden und freut sich über die Vögel am Fenster.
Ein Leben ohne Zigarette, lohnt sich das? Willy Brandt war ein existentieller Raucher.
[picture alliance/Bonner Fotografen]
Darchinger ist jetzt 87, schweigt, schaut hinaus, sagt Sätze wie aus einem Theaterstück: »Es gibt böse, böse Menschen, aber die müssen auch alle
Weitere Kostenlose Bücher