Die Familie Willy Brandt (German Edition)
machten: Wir! Zusammen erzählten sie einander dem Land die große Geschichte, eine große Erzählung, die Sinn stiftete, die Komplexes vereinfachte, die Aura besaß. Blickt man zurück, woher Brandts Fähigkeit kam, dieses Charisma zu entfalten, und woher die Tiefe der Resonanz rührte, die seine Erzählung zur kollektiven Erzählung machte, landet man wieder in Berlin, und wenn man in Berlin landet, dann ist das Leid nicht fern und aus der Gnadengabe wird schnell eine Leidensgabe, Brandts Talent, seine Leiden mit anderen Leiden zu verknüpfen. [7]
Als die aufgebrachten Berliner nach dem blutig niedergeschlagenen Ungarn-Aufstand zum Brandenburger Tor ziehen und Gewalt in der Luft liegt, beschwichtigte Brandt die Bürger. Er ist der Einzige, der das kann. Es ist eine Rhetorik, die nicht auf energetische Potenzierung der Masse setzt, sondern auf deren Entladung. Brandt agierte als emotionaler Blitzableiter, der verhinderte, dass sich der Volkszorn gegen die DDR-Grenzer richtete. Sein Geschäft ist Deeskalation. Diese nächtliche Befriedung der Massen ist eine Etappe auf dem Weg zum Kanzler, denn in diesem Moment findet die Stadt ihren Steuermann. Brandt wird Berliner Bürgermeister, auch weil sich die örtlichen Medien darauf verständigen, auf diesen Mann ihre Pläne und Wünsche zu projizieren. Insbesondere Axel Springers Publikumsblätter wie die »Berliner Morgenpost« machen den Mann zum Menschen, zum Macher, zum Anwalt kollektiver Interessen.
In der geteilten Stadt entfaltet Brandt sein Talent, das Leid aufzusaugen und in Widerstand und Hoffnung zu verwandeln. In den zahlreichen Berlin-Krisen jener Jahre wandelt er stets auf einem schmalen Grat: Er muss den Zorn der Berliner beschwichtigen, er muss ihre Empörung in seine Reden integrieren, er ist der kalte Krieger gen Osten, aber zugleich muss er Spannungen abbauen und die Wut der Sprache in Akte der Diplomatie übersetzen. Drei Tage nach dem Bau der Mauer steht er erneut vor so einem Drahtseilakt, als sich am 16. August 1961 mehrere Hunderttausend Menschen vor dem Schöneberger Rathaus versammeln. Zwei Tage zuvor hatte Adenauer Brandt im Wahlkampf als »Brandt alias Frahm« geschmäht. Ein Riss geht durch Brandt, ein Riss geht durch die Stadt. Egon Bahr hat beschrieben, wie er bis zuletzt an der entscheidenden Rede schrieb, mit der die Stimmung in der Stadt getroffen werden musste. Er schrieb noch, als er bereits das anschwellende Summen der Masse hörte, die so zum Co-Autor einer Rede wird, die darauf abzielen muss, den Dampf aus dem Kessel zu nehmen. So tritt Brandt mit einem Manuskript vor die Berliner, das frisch aus der Maschine kommt, die Worte sind noch warm. Auch diesmal entfaltet Brandt ein quieszierendes Charisma, er droht, er schüttelt rhetorisch die Fäuste, lässt Zornesadern springen, er fordert Konsequenzen, aber im Gewand der Erregung betritt schon die Abkühlung die Arena. Ja, er ist ein kalter Krieger, aber kalt heißt eben auch, dass er die Hitze kühlt, dass er die Flammen löscht, ohne das Feuer auszutreten.
Studiert man diese Rede, betrachtet man sie von heute aus, will sie prima vista nicht als rhetorisches Meisterwerk erscheinen, aber was die Berliner über die Worte hinweg erreicht, was auch heute noch Brandts charismatische Gestalt deutlich werden lässt, ist die Last, die er trägt, ist sein Mitleiden, sein emphatischer Körper, der mit jeder Faser den ohnmächtigen Zorn der Berliner zum Ausdruck bringt. In ihm spiegelt sich Ohnmacht und zugleich ein Aufbegehren dagegen, und unten stehen die ohnmächtigen Berliner und formen zusammen mit ihrem Regierenden Bürgermeister ein Zeichen des Widerstands, ein Fanal des Freiheitswillens. Selbst ein besessener Brandt-Gegner wie Franz-Josef Strauß kam in seinen Erinnerungen nicht umhin, Brandts Anziehungskraft anzuerkennen: »In der Person Willy Brandt schienen brennpunktartig alle ungestillten Wünsche, alle unerfüllten Sehnsüchte, alle psychischen Bedürfnisse zusammenzulaufen. Brandt wurde, ähnlich wie Kennedy, das Idol vieler Bürger, das Pilgerziel aller Beladenen und Belasteten.« War das nicht Willy Brandts besondere Gabe? Die Masse und er tauschten Lasten, sie bewerkstelligten einen emotionalen Lastenausgleich und warfen gemeinsam das kommunizierende Notstromaggregat an.
Willy Brandt wird in den Berliner Jahren zum leidgeprüften Leidbeauftragten einer Stadt, der zugleich alles Leid abschüttelt und als Freiheitskämpfer um die Welt reist, um Berlins Widerstandswillen zu
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