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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Körner
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sie den Kanzler damals als Wahlkämpfer erlebte: »Die Kundgebungen mit Willy Brandt hatten gigantische Besucherzahlen – 35000 in Essen, 20000 in Hannover, 17000 in Köln. Ich hatte ihn kennengelernt auf der Schlussveranstaltung in der Bonner Beethoven-Halle, die ich zwei Tage vor der Wahl moderierte. Zum ersten Mal erlebte ich, mit welcher Intensität er einen Saal füllen konnte. Er sprach frei, schien immer wieder nachzudenken, wie er seine Sache am besten erklären könne. Die zögerliche Sprechweise suggerierte in ihrer Eindringlichkeit jedem Einzelnen da unten, er sei gemeint, er sei wichtig, gerade bei ihm komme es Brandt darauf an, verstanden zu werden. Das war auch so – aus der Ferne war Willy Brandt sehr zugewandt. Und er war von Grund auf glaubwürdig. Ich erinnere mich, dass ich die Veranstaltung schloss mit der Feststellung, ich würde Willy Brandt wählen, ›nicht um seinetwillen, sondern aus purem Egoismus‹. Der Menschenfischer Brandt vermittelt den Fischen das Gefühl, nicht er würde sein Netz nach ihnen, sondern sie, die Fische wären es, die ihr Netz auswerfen, um das Meer an Land zu ziehen, um das Unmögliche möglich zu machen, um ein Stück Zukunft zu erbeuten.«

Kinder als Charisma-Flämmchen und Wahlkampfhelferlein, 1972
[Horst Jürgen Winkel]
    Am 19. November 1972, es ist der Wahlsonntag, legt sich eine spannungsvolle Stimmung übers Land. Die Menschen strömen in die Wahllokale wie in die Kirche. Niemals zuvor und niemals danach hat es bei einer Bundestagswahl eine höhere Wahlbeteiligung gegeben, 91,1 Prozent aller Wahlberechtigten geben ihre Stimme ab. In vielen Familien kommt heute etwas Besonderes auf den Tisch, eine Flasche Wein gehört dazu. Weiße Tischdecken werden ausnahmsweise aus dem Schrank geholt, Männer, die sonst kaum rauchen, kaufen sich eine Festtagszigarre. Die Familie Brandt geht nachmittags ins Theater. »Dornröschen« steht auf dem Programm, und Matthias (11 Jahre) spielt eine Hauptrolle. Er ist der König. Cornelia Scheel (9 Jahre), die Tochter des Außenministers, ist die Prinzessin, und Sybille Ahlers (11 Jahre), die Tochter des Regierungssprechers, spielt den Küchenjungen. Die Ehepaare Brandt und Scheel lachen, als die Prinzessin oben rezitiert: »Ein Tag wie der heutige bringt es wohl mit sich, einmal über sein Leben nachzudenken, dabei sind wir alle voller Gedanken, die zu nichts gut sind, als uns das Herz schwer zu machen.« Heli Ihlefeld, die auch unter den Zuschauern ist, hört Mildred Scheel sagen: »Das hat uns allen gutgetan. Was jetzt kommt, kann man nur noch mit Alkohol überstehen. Ich würde das nicht einen Tag länger aushalten. Es war ja nicht nur dieser Wahlkampf allein, wo wir Frauen gezittert haben. Es waren ja die ganzen letzten drei Jahre.« Nach der Vorstellung steht der Kanzler hinter seinem Sohn, dem kleinen König mit Krone und Zepter, und hält sich an ihm fest, sein Talisman für diesen Tag.
    Als sich am Abend nach und nach das triumphale Wahlergebnis herausschält, bleibt Brandt mehr als gefasst, steif, ungerührt. Rut versucht, die Stimmung mit Scherzen zu lockern. Am späten Abend in der Parteizentrale. Rut Brandt lehnt ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes. Die Fotografen halten das Bild fest. Wenn man diesen fixierten Moment als Foto betrachtet, suggeriert er eine große Nähe und Vertrautheit, eine Gelöstheit zwischen den Eheleuten, es wirkt so, als kämen sie inmitten des sie umgebenden Trubels zur Ruhe, Rut Brandt lächelt entspannt, ihr Mann ist heiter. Sieht man diese Szene jedoch als Filmbild, dann wird offenkundig, wie flüchtig und kurz dieser Augenblick war, ihm und ihnen ist keine Ruhe vergönnt, die Eheleute werden durch andere Gratulanten, Journalisten und Parteifreunde rasch getrennt, ihr Kopf lag kaum eine Sekunde an seiner Schulter, Halt kann sie hier und jetzt nicht finden.
    Brandts Charisma, das am Tag des Misstrauensvotums und des Wahlsonntags dramatisch kulminierte und zwischen diesen beiden historischen Daten seine größte Wirkung erzielte, war also keine göttliche »Gnadengabe«, denn das bedeutet das Wort in altchristlicher Terminologie, sondern es war eine lange, tiefe, verwickelte und komplizierte Geschichte, die Brandt in sich trug, die sich nach außen wendete, andere umschloss und andere aufforderte, sich zu Erzählern aufzuschwingen. [6]   Brandts Charisma gewann seine Kraft erst durch die Millionen Ich-Erzähler, die seine Geschichte zu der ihren und ihre Geschichte zu der seinen

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